Ofraneh, die Organisation der afro-indigenen Garífuna in Honduras, nimmt Stellung zur geplanten Privatstadt Prospera und erinnert an historische Kontinuitäten
Am 17. August 2020 jährte sich zum hundertsten Mal die Ankunft des Kriegsschiffs "USS Sacramento" im Hafen von La Ceiba. Ziel war es, die Interessen der "sizilianischen Brüder" Vaccaro und ihrer Bananengesellschaft Standard Fruit Company zu schützen, die mit einem Streik der Arbeiter auf den Bananenplantagen rund um La Ceiba konfrontiert waren.
Dem Historiker Antoni Canelas zufolge kam es einige Tage vor der US-Militärintervention während des Streiks zu dem sogenannten Massaker der 8. Straße (masacre de la calle 8) und anschließend zum Massaker an der Straßenbiegung nach La Masica. In seinem Buch "Die wirtschaftliche Erdrosselung von La Ceiba" beschreibt er die Einzelheiten des Streiks und die blutige Repression, die sich in jenem unheilvollen Jahr 1920 im Departamento Atlántida ereignete. Es markierte das Ende der kleinen Bananenproduzenten, die als "Poquiteros" bezeichnet wurden, festigte die Macht der Vaccaro-Brüder, führte zur Aneignung von ganz Atlántida und La Ceiba wurde dank des Schutzes der USA zum Lehnsgut einer Familie.
Die "Modellstädte" (ZEDE) und die Rückkehr der territorialen Konzessionen in Honduras
Am 6. Mai 2020, inmitten der SARS-CoV-2-Pandemie, nahm das Unternehmen Prospera seine Aktivitäten zur Errichtung der ersten "Modellstadt" von Honduras auf der Insel Roatán auf. Den Rahmen hierfür liefern die "Zonen für Arbeit und wirtschaftliche Entwicklung" (Zonas de Empleo y Desarrollo Económico, ZEDE), die zum Grundpfeiler der "nationalistischen" Regierungen geworden sind, die Honduras im letzten Jahrzehnt regiert haben, welche für die herrschende Gewalt und Korruption berüchtigt war.
Seit 2011 hat Honduras entschieden, Schauplatz für die Einführung von "Modellstädten" zu werden, basierend auf einer nicht sonderlich neuen Wirtschaftstheorie des US-Ökonomen Paul Romer. Er hatte zunächst versucht, sein Experiment auf Madagaskar auszuführen, wo sich das Volk im Jahr 2009 gegen den damaligen Präsidenten Marc Ravalomana erhob, der 100.000 Hektar Land an die südkoreanische Handelsgesellschaft Posco-Daewoo gestiftet hatte.
Daraufhin trat Romer 2011 in Honduras in Erscheinung, wo er die Regierung von Porfirio Lobo beriet und die Errichtung von Modellstädten in unserem Land beförderte. Im Wesentlichen erlauben die Modellstädte oder die "Sonderwirtschaftszonen" die Ausgliederung des Justiz- und Sicherheitssystems und führen zur Bildung von Stadt-Staaten, gleichsam autonomen Gebieten innerhalb des Nationalstaates und setzen auf diese Weise dem Konzept des Westfälischen Systems ein Ende1.
Der "nationalistische" Putsch gegen das Verfassungsgericht
Im Oktober 2012 erklärte das honduranische Verfassungsgericht das Gesetz zu den Sonderentwicklungszonen (Regiones Especiales para el Desarrollo, RED) für verfassungswidrig. Als Vergeltungsmaßnahme für ihren Beschluss zum RED-Gesetz setzte das Parlament im Dezember desselben Jahres zahlreiche Verfassungsrichter ab.
Seit dem Putsch der Legislative gegen die Judikative ist die Gewaltenteilung in Honduras verschwunden, was zu einem enormen Machtmissbrauch geführt hat. Der Nationalkongress betreibt eine Gesetzgebung, die auf die Zerstörung und Verletzung der Menschenrechte abzielt.
Nachdem eine Delegation der US-amerikanischen National Lawyers Guild (NLG) Honduras besucht hatte, legte sie einen Bericht vor, in dem sie hervorhob: "Weniger als zwei Monate nach dem Urteil über das RED-Gesetz stimmte der honduranische Nationalkongress für die Absetzung der vier Richter der Kammer des Verfassungsgerichts, die gegen das Gesetz geurteilt hatten. Dieselben vier Richter hatten sich mit der Regierung auch mit ihrem Urteil über ein Polizeireformgesetz überworfen. Viele Rechtskommentatoren, ebenso wie die honduranische Ministerin für Justiz und Menschenrechte und die UN-Sonderberichterstatterin zur Unabhängigkeit von Richtern und Staatsanwälten charakterisierten diese Amtsenthebung als einen zweiten Putsch, da sie die in der Verfassung festgelegten Verfahrensweisen nicht einhielt."
Bis heute ignorieren die an Prospera beteiligten neoreaktionären US-Libertären die grenzüberschreitenden Ereignisse vom 12. Dezember 2012. Darüber hinaus missachten sie mit voller Absicht die Situation, in der sich Honduras als Konsequenz dessen befindet, was das Gericht für den Bezirk New York Süd als "die unbarmherzige Allianz zwischen honduranischen Funktionären und Drogenhändlern" bezeichnet.
Selbstverständlich sind die von Prospera aufgezählten Wohltaten verlockend, trotzdem sehen wir nur die Spitze des Eisbergs von dem, was das Ende der liberalen bürgerlichen Demokratie bedeutet ‒ die sich zweifellos in der Krise befindet ‒, und die Option zur Autokratie zurückzukehren, wie sie die Anhänger von Ayn Rand so sehr schätzen.
Sowohl Thiel als auch Friedman haben ihre Verachtung gegenüber der Demokratie öffentlich zum Ausdruck gebracht und verheimlichen auch nicht ihre Tendenzen zu möglichem Rassismus. Diese Situation befördert vielerlei Vermutungen hinsichtlich der möglichen Formen der Regierung, welche die "Libertären" mit ihren Experimenten zur Regierungsführung in den Überresten der Republik Honduras umsetzen wollen.
Selbstverständlich blickt Honduras auf eine lange Geschichte von korrumpierten Regierungen zurück. Von der Episode der von Gregor McGregor erfundenen "Republik von Poyais", die als der größte Betrug des 19. Jahrhunderts in die Geschichte einging, bis zur Auslieferung von La Ceiba an die sizilianische Mafia der Vaccaro-Bürder, die zufällig genau ein Jahrhundert später, im August 1920, durch die Intervention der USS Sacramento auf den Thron gehoben wurden.
Die territorialen Konzessionen im 21. Jahrhundert
La Ceiba wurde allem Anschein nach von Thiel-Friedman und ihrem Vertreter in Honduras, Erick Brieman, ins Visier genommen. Bis zum heutigen Tag hat der "liberale" Bürgermeister von La Ceiba, Jerry Sabio, keinerlei Informationen über die Machenschaften der "Libertären" veröffentlicht, die dazu führten, dass die Stadt mehr als ein halbes Jahrhundert lang der Sitz der Mafia der Vaccaro-Brüder war, deren Handelsgesellschaft später in Standard Fruit Company umbenannt wurde. Im besten Stil der liberalen Tyrannen hat Sabio es nicht versäumt, über die Bestrebungen zur Errichtung eines neuen Mazapán zu informieren – die Stadt der Standard Fruit Company, die für Honduraner verboten ist und die ihre Zugangsbeschränkungen bis heute aufrechterhält.
Gewiss ist Honduras mit einer schweren ökonomische Krise konfrontiert. Die Erfahrungen aus der Vergangenheit, das Territorium angeblichen ausländischen Investoren zu überlassen, haben dem Land jedoch keinen Nutzen gebracht. Und noch weniger in der aktuellen Situation, in der wir uns befinden. Ein Land, das offenbar vom organisierten Verbrechen gesteuert wird, bietet keinerlei Garantie dafür, dass die Interessen einer Mehrheit vertreten werden, die der Gewalt und der Abwesenheit eines Rechtsstaates unterworfen ist.
Wie wir bereits festgestellt haben, ist der Notstand, in dem sich Honduras befindet, zum Teil ein Werk der nach dem Staatsstreich hochgekommenen Regierungen, die die Wirtschaft des Landes zerstört und die Gesetze ausgehöhlt haben. Wie "philanthropisch" die Intentionen von Prospera auch sein mögen, ihr Bündnis mit der aktuellen Regierung diskreditiert ihre Bestrebungen, zum Wohlstand der honduranischen Bevölkerung "beizutragen".
Die Gemeinschaften und Verbände von Roatán haben sich gegen die ZEDE Prospera ausgesprochen. Sie kritisieren, dass keine „vorherige, freie und informierte Befragung“ mit den Inselgemeinden durchgeführt wurde, so wie es die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker festlegen; und sie prangern das anhaltende und systematische Versäumnis des Staates an, das Recht auf Konsultation anzuerkennen.
Organización Fraternal Negra Hondureña, Ofraneh
Die 1978 gegündete Ofraneh ist die Organisation der afro-indigenen Garífuna in Honduras. Die Garífuna sind Nachfahren westafrikanischer Versklavter und Arawak-Indigener
- 1. Als Westfälisches System wird im weiteren Sinn ein System von nach innen und außen souveränen Nationalstaaten bezeichnet
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