Präsidentin Castro genießt einen beispiellosen Rückhalt im Volk. Das verschafft ihr die nötige Legitimität, um politische Entscheidungen gegen die Interessen der Eliten zu treffen
Am vergangenen 27. Januar übernahm Xiomara Castro Sarmiento die Präsidentschaft von Honduras. Castro, die am 28. November 2021 die Präsidentschaftskandidatin mit den meisten abgegebenen Stimmen in der Geschichte des Landes war, wurde im renovierten Nationalstadion Chelato Uclés in ihr Amt eingeführt; in jenem Stadion, das fast ein Jahrhundert lang den Namen von Tiburcio Carías Andino trug, dem Diktator, der Honduras von 1933 bis 1949 regierte und der weithin bekannt war für seine Politik der Unterwerfung gegenüber den USA und für seine Strategie der Zerschlagung jedweder Opposition gegen sein Regime.
Die Umbenennung dieser Sportstätte in einem symbolischen Akt war eine der ersten Maßnahmen der neuen Regierung, um dem honduranischen Volk zu zeigen, dass die Neubegründung des Staates kurz bevorsteht.
Die Machtübernahme durch Xiomara Castro und die Partei Freiheit und Wiederbegründung (Partido Libertad y Refundación, Libre) ist voller Symbolik. Inmitten der Krise des Parlaments sah sich die Polizei gezwungen, die Absperrungen zu entfernen, die den Zugang zu den Einrichtungen des Parlaments verhinderten; Mädchen und Jungen setzten sich auf die Sitze der Abgeordneten und ergriffen deren Mikrofone; informelle Marktfrauen und -männer kamen in das Gebäude, um Wasser und Nüsse an die Leute zu verkaufen, die sich in einem Akt der Wiedereroberung dieses öffentlichen Raumes versammelt hatten.
Überall nahmen die Menschen die bisherige Nationalfahne ab, welche die Farben der Fahne der Nationalpartei (Partido Nacional) hat, und hissten an ihrer Stelle auf den Plätzen im ganzen Land die frühere, durch die neue Regierung zurückgewonnene türkisblaue Fahne. Auf der Straße sehen die Mädchen in Xiomara die erste von vielen weiteren Präsidentinnen, die Honduras haben wird.
Das Debakel des Regimes von Juan Orlando Hernández Alvarado und der Nationalpartei spielte sich in einem symbolischen Krieg ab, wie er einer echten revolutionären Situation eigen ist – beispiellos in der honduranischen Geschichte.
Allerdings wird, wie in jedem progressiven Zyklus in Lateinamerika, die Regierung des "demokratischen Sozialismus" (wie ihn Castro in ihrer Rede am 27. Januar definierte) umgehen müssen mit dem enormen Wiederspruch zwischen dem Versprechen der Vollendung eines Projektes der "Neugründung" und dem Druck der lokalen und transnationalen Eliten zur Wahrung ihrer Vorherrschaft und ihrer politisch-ökonomischen Interessen in dem Land.
Das ist ein Widerspruch, dessen sich die von Castro angeführte Regierung voll bewusst ist. So hat sie selbst es schon zu Beginn ihrer Rede im Nationalstadion zum Ausdruck gebracht, als sie sich auf den Zustand der öffentlichen Verwaltung und ihrer Ressourcen bezog, wo die Herausforderungen ganz klar sind:
"Die wirtschaftliche Katastrophe, die ich übernehme, ist beispiellos in der Geschichte des Landes, und ihre Auswirkung auf das Leben der Menschen zeigt sich in dem 700-prozentigen Anstieg der Schulden. Die Armut wuchs um 74 Prozent und machte uns zum ärmsten Land Lateinamerikas. […] Es ist praktisch unmöglich, den Schuldendienst zu erbringen. Die einzige Lösung ist ein Prozess der umfassenden Restrukturierung mittels eines Abkommens mit den privaten und öffentlichen Gläubigern. [...] Die Frage, die wir Honduraner uns alle zu diesem Haushalt stellen, ist: Wie viel Geld kommt bei den Armen an? Wem dient dieser Haushalt? Wer überprüft den Haushalt und seine Umsetzung? Wie umgehen mit der Haushalts-Korruption?"
Dieser Widerspruch ist auch schon in der am 27. Januar angekündigten Zusammensetzung ihres Kabinetts sichtbar. Auch wenn es mehrheitlich aus Persönlichkeiten und Kadern ihrer Partei Libre besteht, so ist doch die Beteiligung von Vertretern der Rettungspartei von Honduras (Partido Salvador de Honduras, PSH) bemerkenswert, mit der es im Wahlkampf eine Oppositionsallianz gab und die entscheidend war für die Sicherstellung des Sieges von Castro gegen den Präsidentschaftskandidaten des Regimes, Nasry Juan Asfura Zablah.
Besonders bemerkenswert ist die Beteiligung des Unternehmers Pedro Barquero bei der Koordinierung des Kabinett-Bereiches für wirtschaftliche Entwicklung, einer strategischen Einrichtung für die Formulierung der Wirtschaftspolitik des Landes; und lebenswichtig für eine Regierung des "demokratischen Sozialismus", die das große Problem der extrem ungleichen Verteilung des Reichtums in Honduras entschärfen und die Folgen der in der zurückliegenden Dekade von der Regierung Hernández betriebenen extraktivistischen Politik abmildern will. Barquero seinerseits, der vor seinem Engagement in der PSH Präsident der Industrie- und Handelskammer von Cortés von Cortés (CCIC) war, vertritt viel mehr die Interessen des privaten inländischen Kapitals als die des "Neugründungs-Projektes".
Es ist vorhersehbar und verständlich, dass es in der Realpolitik1 bei der Bildung jedweder Regierung zu Vereinbarungen dieser Art kommt. Jedoch sind hier große Spannungen vorprogrammiert, was die Überwindung der Folgen des autoritären Regimes betrifft, das auf den Sturz von Manuel Zelaya (Ehemann von Castro) im Jahr 2009 folgte.
Die auf Diktaturen folgenden Übergänge sind – wie es in der Erfahrung Lateinamerikas gut bekannt ist – Perioden zur Heilung tiefer Wunden; nicht nur in der Institutionalität oder der Legislative, sondern vor allem im Leben der Bevölkerung. Seit dem Staatsstreich bis heute sind über 5.000 Frauen Opfer von Feminiziden geworden, und es wurden mehr als 300 LGBT+ Personen ermordet. Zahlreich waren die Verbrechen gegen Dorfgemeinschaften und Volksgruppen und der Bedarf an einer Übergangsjustiz (justicia transicional) ist groß. Honduras wurde wegen der Verbindungen der Familie Hernández Alvarado zum Drogenhandel auch zu einem in der internationalen Gemeinschaft berüchtigten Land und ebenso bekannt durch die massenhafte Auswanderung von Menschen, die aus dem Land vertrieben wurden.
Die Migrationskrise selbst stellte eine Zäsur in der Außenpolitik der USA gegenüber Honduras dar; belegt wurde dies durch die Anwesenheit der Vizepräsidentin Kamala Harris bei der Amtseinführung von Castro. Harris anerkannte die Übernahme der Präsidentschaft von Honduras durch Castro als „einen positiven Wandel“ für das Land. Diese Annäherung seitens Washington ist nicht zufällig; es ist die Reaktion auf die Notwendigkeit, der humanitären, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise zu begegnen, die im nördlichen Dreieck Mittelamerikas feststellbar ist.
Angesichts dieser Sachlage läuft das Neubegründungs-Projekt große Risiken, durch die Bestrebungen der politischen und wirtschaftlichen Elite hintertrieben zu werden, die Castro dazu drängt, den alten Liberalismus zu restaurieren, wie er vor dem Staatsstreich von 2009 existierte und dessen institutionelles Gerüst errichtet wurde, um die Projekte und Geschäfte der Machtgruppen zu sichern. In diesem Sinne steht Honduras vor drei großen Herausforderungen, um den Weg zu tiefgreifenden Veränderungen zu ebnen.
Die erste Herausforderung ist die innere Demokratisierung der Partei Libre. Unlängst wurde über die Gründe spekuliert, die zu den Auseinandersetzungen innerhalb der Parlamentsfraktion führten. Der Nationalkongress erlebte eine gewaltige politische und institutionelle Krise, die im Nebeneinander-Bestehen von zwei Präsidien zum Ausdruck kam: eines unter Vorsitz des Abgeordneten Luis Rolando Redondo Guifarro (unterstützt durch das Bündnis zwischen Libre und PSH) und das andere angeführt von Jorge Luis Cálix Espinal (unterstützt durch abtrünnige Abgeordnete von Libre, durch die Partido Nacional und die Partido Líberal).
Die politische Erschütterung, die diese "Dualität der Mächte" hervorrief, hatte den Ausschluss von 17 Abgeordneten der Libre, die die Präsidentschaft von Cálix unterstützten, zur Folge sowie die massive Mobilisierung der Bevölkerung vor dem Nationalkongress, um ihre Ablehnung des Präsidiums unter Cálix wegen fehlender Legitimität und Legalität zum Ausdruck zu bringen. Das Präsidium unter Redondo verfügte seinerseits zwar über Legitimität, aber der Streit zwischen beiden Leitungsgremien brachte die Handlungsfähigkeit dieser Machtsäule des Staates in Gefahr.
Das honduranische Zentrum für Demokratiestudien hat drei für das Verständnis dieser kritischen Lage wichtige Elemente benannt: die Schwierigkeiten der Partei Libre, intern einen Konsens herzustellen; die Verschwörung der Rechten gegen die gewählte Regierung und die Beteiligung weiterer mächtiger Akteure wie des organisierten Verbrechens und des inländischen Großkapitals. In den sozialen Medien verbreitete Videos und Audios haben die Verbindungen zwischen den abtrünnigen Abgeordneten der Libre-Fraktion und dem Präsidenten des Zentralen Exekutivrates der Partido Liberal, Yani Rosenthal, aufgezeigt, der wegen Geldwäsche in den USA drei Jahre im Gefängnis saß.
Auch wurde die Verbindung zwischen abtrünnigen Abgeordneten und dem Ex-Parlamentarier und Bruder des Ex-Präsidenten Hernández, Juan Antonio Hernández Alvarado (besser bekannt als Tony Hernández), aufgedeckt, der wegen vier Straftaten, einschließlich Drogenhandels, in New York zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. 2
Dennoch ist es wichtig, auch den schon erwähnten Problemen der Partei Libre bei der Verarbeitung ihrer inneren Spannungen Aufmerksamkeit zu widmen. Die innerparteilichen Konflikte zwischen den vielfältigen Strömungen und Akteuren in der Partei sind historisch, und es ist wahrscheinlich, dass sie sich mit der Regierungsübernahme intensivieren, wie es in der Krise der Legislative augenscheinlich geworden ist.
Es ist sehr wichtig, dass die Partei die Perspektive der Stärkung ihrer inneren Struktur nicht aus dem Blick verliert, damit ihre elementaren Grundsätze, die einen Neugründungscharakter haben, bei der Ausübung der Macht an der Regierung nicht pulverisiert oder verwässert werden.
Die zweite Herausforderung ist, den großen Rückhalt der Präsidentin in der Bevölkerung zu erhalten und zu vergrößern. Bei den Wahlen am 28. November 2021 erhielt Castro 1.716.793 gültige Stimmen und wurde damit zur Präsidentschaftskandidatin mit den meisten Stimmen und zur ersten Frau in der Geschichte Honduras', die in das Amt gelangte. Die neue Präsidentin genießt einen beispiellosen Rückhalt im Volk, was ihr die nötige Legitimität verschafft hat, um politische Entscheidungen gegen die Interessen der großen Machtgruppen zu treffen, wie sie es mit dem Ausschluss mehrerer Parlamentarier ihrer Fraktion aus der Partei Libre im Rahmen der Krise der Legislative gezeigt hat.
Castro bewies ihre Stärke auch bei der massiven Mobilisierung der Bevölkerung während der Amtseinführung und hat zahlreiche Versprechungen gemacht, die substantiell und strukturell das Leben im Land verändern könnten. Darunter stechen hervor: eine Beihilfe für die Ärmsten zu den Zahlungen für Strom, Kraftstoffsubventionierung, die Konzentration der Anstrengungen zur Erreichung der Lebensmittelsouveränität, das Verbot der Erteilung weiterer Bergbau-Konzessionen im Tagebau, die Freilassung der Umweltschützer, die wegen der Verteidigung des Guapinol-Flusses eingesperrt sind, die Amnestie für weitere politische Gefangene und während der Diktatur ins Exil getriebene, Gerechtigkeit im Mordfall Berta Cáceres und die Realisierung der ersten Volksbefragung zu Verfassungsreformen.
Ungeachtet dessen wird es eine Herausforderung von großer Tragweite für Castro sein, sich den Interessen der Eliten zu widersetzen; mit einer Legislative in der Krise, mit einer Judikative, die sich nach wie vor in den Händen von Leuten des Regimes der Nationalpartei befindet, und mit einer von Privatunternehmen bestimmten Medienlandschaft, deren Nähe zu den Interessen der Machtgruppen schon überdeutlich ist. Das Schicksal von Honduras in den nächsten vier Jahren ist ungewiss. Jedoch ist es von vitaler Bedeutung, dass die Regierung von Castro den popularen Rückhalt bewahren kann, dass sie weiterhin ein entscheidendes Gegengewicht zu den Interessen der Elite bleibt, die ihrerseits darauf beharrt, das neoliberale Modell in all seinen Formen zu erhalten.
Die dritte große Herausforderung ist die, vor der die sozialen und popularen Bewegungen angesichts der Möglichkeiten des verfassungsgebenden Prozesses stehen. Auch wenn Castro klar gesagt hat, dass ihre Regierung einen Prozess der Volksbefragung befördern würde, der in einer Nationalen Verfassunggebenden Versammlung – einer historischen Forderung des honduranischen Volkes seit dem Staatsstreich 2009 – gipfeln könnte, so ist auch wahr, dass diese Bewegungen die objektiven und subjektiven Bedingungen schaffen müssen, um die Legitimität zu erreichen, die ein derartiger Prozess erfordert. In diesem Sinne müssen sie sich befähigen, auf die Vorhaben der neuen Regierung zu antworten, und vor allem aber technische und politische Vorschläge entwickeln mit Blick auf einen Verfassungsprozess, der auf eine wirkliche Neubegründung des Staates ausgerichtet ist.
So haben es eine Vielzahl von Organisationen, Bewegungen und Gruppen wie die Ständige Versammlung der Volksmacht (Asamblea Permanente del Poder Popular, APPP), ein im Januar 2022 im Rahmen des beginnenden politischen Übergangsprozesses entstandenes Forum, zum Ausdruck gebracht. Neben anderen Positionen bekräftigte die APPP, dass "die nächste Station der Zukunftsvorstellung des honduranischen Volkes die eigenständige Einberufung der Nationalen Verfassunggebenden Versammlung ist; diese soll neubegründend, umfassend bevollmächtigt und originär sein, unter Beteiligung aller Sektoren der honduranischen Gesellschaft".
Die Herausforderungen für Honduras sind zahlreich. Noch nie in der politischen Geschichte des Landes gab es einen derartigen Übergang zu einer progressiven Regierung und eine derart massive Beteiligung der Bevölkerung an öffentlichen Angelegenheiten wie heute.
Für ein "Land im Hosentaschenformat" wie dieses, mit einem sehr fragilen institutionellen Gerüst und einer Legislative, die geschaffen wurde, um die Völker systematisch zu unterdrücken, wird es lebenswichtig sein, sich die in Lateinamerika gesammelten Lehren anzueignen und die Fahnen des Wandels festzuhalten.
Die Autorin ist Historikerin an der Nationalen Autonomen Universität von Honduras (UNAH) und unabhängige Feministin aus Tegucigalpa, Honduras
- 1.Deutsch im Originaltext
- 2.Der Konflikt konnte am 8. Februar 2022 durch eine Vereinbarung unter Vermittlung von Zelaya beigelegt werden: Cálix zog seinen Anspruch auf die Führung des Kongresses zurück, sodass Redondo, ein Verbündeter von Präsidentin Xiomara Castro, diese übernehmen konnte. Die 17 abtrünnigen Abgeordneten, die aus der Libre-Partei ausgeschlossen worden waren, wurden wieder in ihre Positionen eingesetzt, und Redondo von der Partei Salvador Honduras (PSH) wurde als Parlamentspräsident anerkannt