INTERVIEW MIT DER AKTIVISTIN MIRIAM MIRANDA ÜBER SELBSTORGANISIERTE GESUNDHEITSZENTREN IN DEN GARÍFUNA-GEMEINDEN IN HONDURAS
Weil die staatliche Gesundheitsversorgung in Honduras nicht funktioniert, haben sich die Garífuna-Gemeinden kollektiv organisiert und ein eigenes System aufgebaut, um der Pandemie zu begegnen. Die LN sprachen mit Miriam Miranda, Koordinatorin der Garífuna-Basisorganisation OFRANEH, die den Prozess mit angestoßen hat. Sie berichtet, welche Strategien die Gemeinden zu ihrem Schutz entwickelt haben und wie diese durch organisierte Kriminalität und staatliche Maßnahmen bedroht werden.
Miriam Miranda (Foto: Rel-UITA Regional Latinoamericana via Flickr, CC BY 2.0) |
MIRIAM MIRANDA
ist Koordinatorin der Organización Fraternal Negra Hondureña
(OFRANEH), die sich seit 30 Jahren für die Rechte der Garífuna in Honduras
einsetzt. Gemeinsam mit ihrer Organisation engagiert sie sich gegen Landraub
und Menschenrechtsverletzungen, von denen die afroindigenen Garífuna betroffen
sind. Die meisten Garífuna leben in einer der 48 Gemeinden an der Karibikküste.
Doch das Territorium der Garífuna ist stark umkämpft und wird sowohl durch
Gruppen der organisierten Kriminalität bedroht als auch durch touristische
Großprojekte, Bergbauvorhaben sowie die neoliberalen Pläne der Regierung,
Sonderwirtschaftszonen einzurichten. Allein 2019 wurden 17 Garífuna in Honduras
ermordet, darunter vor allem Menschenrechtsverteidiger*innen und
Umweltaktivist*innen (siehe LN 548).
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Warum haben die Garífuna-Gemeinden angesichts der
Corona-Krise beschlossen, sich selbst zu organisieren?
Wir wussten mit Sicherheit, dass es viele Tote in den
Garifuna-Gemeinden geben würde, wenn wir kein eigenes System zum Schutz der
Gemeinden entwickeln. Honduras wird seit dem Putsch 2009 ausgeplündert. Es
wurde nie in den Gesundheitsbereich investiert. Bei einem Skandal um das
Sozialversicherungsinstitut, das IHSS, wurde öffentlich, dass dieses völlig
ausgenommen wurde (Anm. d. Red.: Korruptionsskandal, bei dem 2015 öffentlich
wurde, dass hochrangige Funktionäre der Wirtschaft und Politik über 300
Millionen US-Dollar veruntreut haben, u.a. wurde damit 2013 die Wahlkampagne
der regierenden Nationalen Partei finanziert, siehe LN 493/494). Das hat zum
Zusammenbruch des Gesundheitssystems im Land geführt. Es gab so schreckliche
Fälle, bei denen die Gesundheitsstationen nicht einmal eine Spritze hatten.
Nicht nur in den ländlichen Gebieten, sondern sogar in den großen Städten.
Außerdem erleben wir in Honduras seit Jahren eine große Krise mit dem
Dengue-Fieber, an dem viele Leute sterben. Die Regierung hat das vertuscht,
aber die Situation mit dem Coronavirus kann sie nicht verstecken, weil die
Erkrankungen an dem Virus so exponentiell wachsen.
Wie bewerten Sie den Umgang der honduranischen Regierung mit
dem Coronavirus?
Der Staat hat vor einem Monat die Strategie der
„intelligenten Öffnung“ beschlossen. Es ist eine Dummheit, dem Druck der
Unternehmer nachzugeben, die fordern, die Wirtschaft zu öffnen, egal, ob sich
dadurch Menschen infizieren. Ich denke, dass die Öffnung der Wirtschaft den
Bedingungen im Land entsprechen muss, mit der Pandemie umzugehen. Und das
Gesundheitssystem in Honduras ist eine Katastrophe. Das Coronavirus entblößt
dieses desaströse Gesundheitssystem. Den Ärzten bleibt nur noch die
Möglichkeit zu sagen: „Bitte bleibt zu Hause und kommt nicht ins Krankhaus. Es
gibt keinen Platz.“ In Honduras werden Tests nur in Tegucigalpa ausgewertet,
das heißt, wenn jemand in der Mosquitia oder in Gracias a Dios lebt, kommt das
Testergebnis erst an, wenn die Person schon gestorben ist. Besonders schlecht
ist die Gesundheitsversorgung in vielen indigenen Gemeinden. Sehr viele
Misquitos sind an Corona gestorben und den Staat interessiert das nicht. Es ist
schrecklich. Regierungen wie die in Honduras provozieren einen Genozid an der
armen Bevölkerung, weil sie wissen, dass sie unter den aktuellen sanitären
Bedingungen die Wirtschaft nicht auf diese Weise öffnen dürfen. Die Zahl der
Ansteckungen hat seit der Öffnung auf unglaubliche Weise zugenommen, zum
Beispiel in der Hauptstadt. Diese Pandemie zeigt sehr deutlich die soziale
Ungleichheit in Honduras. So wurde beispielsweise das Militärkrankenhaus
geöffnet, um den Präsidenten und alle ihm nahestehenden Personen zu versorgen.
Welche Strategien verfolgen Sie in dieser Situation in den
Gemeinden?
Uraltes Wissen Tees Zubereitung von Tee zur Stärkung des Immunsystems (Foto: OFRANEH) |
Seit dem 7. März haben wir begonnen, uns in den Gemeinden
kollektiv zu organisieren, um Gesundheitszentren zu schaffen. Bisher haben wir
31 Zentren eingerichtet. Unser Ziel ist es, so viele Leben wie möglich zu
retten. Dafür ist es notwendig, Gesundheit ganzheitlich zu denken, denn
Gesundheit hat auch damit zu tun, wie wir uns ernähren und welche Luft wir
atmen. Das sehen wir auch daran, dass mehr Menschen am Coronavirus sterben, die
in Gebieten leben, in denen die Luft kontaminiert ist. Die Infektionsherde
liegen momentan in den Industriezentren, wie San Pedro Sula. Die Pandemie hat
eine Gesundheitskrise ausgelöst, aber diese ist eng verknüpft mit Umweltfragen
und der Klimakrise. Die Pandemie lehrt uns, dass Gesundheit nicht einfach
bedeutet, zum Arzt zu gehen und Tabletten zu nehmen. Deshalb kämpfen wir in den
Garífuna-Gemeinden auch gegen den Bau von Wasserkraftwerken und die Ausbeutung
natürlicher Ressourcen, weil auch das die Gesundheit
gefährdet.
Wie spiegelt sich der ganzheitliche Ansatz von Gesundheit in
der Arbeit der Gesundheitszentren wider, die Sie in den Gemeinden aufgebaut
haben?
Viele Menschen in den Gemeinden zählen zur Risikogruppe,
weil sie Diabetes oder Bluthochdruck haben. Das brachte uns auf die Idee, dass
es wichtig ist, das Immunsystem zu stärken, im Besonderen bei unseren
Großmüttern und Großvätern. In den Gemeinden existiert ein uraltes Wissen
darüber, welche Pflanzen medizinische Wirkungen haben und welche hilfreich für
das Immunsystem sind, wie Eukalyptus- und Avocadoblätter, Zitronen, Knoblauch
und Zitronengras. Die Corona-Krise sehen wir auch als Möglichkeit, dieses
Wissen wieder mehr zu verbreiten. Ein Bestandteil der Kultur der Garífuna ist
das Trinken von aus frischen Kräutern zubereitetem Tee. Daher ist eine der
Aufgaben der Gesundheitszentren die Zubereitung von medizinischen Tees, die zur
Stärkung des Immunsystems beitragen. Außerdem haben wir ein Handbuch über die
Medizin unserer Vorfahren und Vorfahrinnen veröffentlicht, das auch in anderen
Ländern Lateinamerikas von indigenen Gemeinden und anderen Menschen genutzt
wird. Innerhalb der Gemeinden arbeiten wir als Kollektiv, um zu verhindern,
dass sich das Virus ausbreitet, und um betroffene Personen zu unterstützen.
Beispielsweise werden in den Gesundheitszentren Masken hergestellt und
verteilt. Wir kümmern uns um Menschen, die Vorerkrankungen haben. Mittlerweile
gibt es compañeras und compañeros, die fast schon die Arbeit von Ärztinnen und
Ärzten übernehmen, indem sie Hausbesuche machen und Menschen, die Symptome von
COVID-19 zeigen, beobachten und versorgen. Ebenso haben wir Suppenküchen
eingerichtet und registrieren in den Gesundheitsstationen Fälle von häuslicher
Gewalt, um Frauen, die davon betroffen sind, unterstützen zu können.
Wer ist an dieser kollektiven Arbeit beteiligt?
Freiwillige in den Gesundheitszentren Vor allem Frauen engagieren sich (Foto: OFRANEH) |
Diese Arbeit wird vor allem von Frauen geleistet. Ich würde
sagen, 99 Prozent der selbstorganisierten Gesundheitszentren sind in den Händen
von Frauen. Wir nennen die Frauen Kämpferinnen, denn es ist harte Arbeit,
sieben Tage die Woche dafür zu sorgen, dass alles funktioniert, dass es Medizin
und Essen gibt und nicht so viele Neuinfektionen.
Wir sind sehr zufrieden, dass die Garífuna-Gemeinschaft im
Moment im Vergleich zu den umliegenden Regionen die geringste Anzahl an
Infektionen aufweist. Die zwei Zonen, in denen sich Garífuna-Gemeinden
befinden, die aktuell die höchsten Infektionsraten haben, sind Trujillo und
Punta Gorda, aber die Mehrheit der an COVID-19 erkrankten Menschen sind keine
Garífuna, sondern leben in der Nähe der Gemeinden. Aber das kann sich in den
nächsten Monaten ändern, denn wir sind keine Insel, die von der Umwelt isoliert
ist, sondern die Menschen verlassen die Gemeinden, um einkaufen zu gehen und
ihre Produkte zu verkaufen.
Wurden Vorkehrungen getroffen, um die Mobilität zwischen den
Gemeinden einzuschränken?
Dafür zu sorgen, dass nicht alle möglichen Leute in die
Gemeinden kommen, ist ein wichtiges Thema. Deshalb wurden an den Eingängen
Kontrollpunkte eingerichtet. Dies hat zu Konflikten geführt, in einem Fall
sogar zu einem Mord. Als ein compañero aus Río Tinto, Edwin Fernández, sich
weigerte, die Schlüssel an Personen auszuhändigen, die nachts seine Gemeinde
betreten wollten, töteten sie ihn. Die Region der Karibikküste, in der wir
leben, wird von Gruppen der organisierten Kriminalität für den Drogenhandel
genutzt. Sie sind es gewohnt, dass sie in den Gemeinden ein- und ausgehen
können, wie sie möchten, auch nachts, wenn die Menschen schlafen. Das geht
jetzt nicht mehr so einfach, denn die Eingänge werden Tag und Nacht
kontrolliert. Es wäre die Aufgabe des Staates für unsere Sicherheit zu sorgen,
aber in Honduras sind das organisierte Verbrechen und der Staat eng miteinander
verwoben. Wir fordern von der Regierung, dass sie den Mord an Edwin Fernández
aufklärt und diejenigen dafür bestraft, die in unsere Gemeinden kommen und
unsere Leute umbringen.
Wie hat die Regierung darauf reagiert, dass sich die
Garífuna-Gemeinden zur Eindämmung des Virus selbst organisiert haben?
Die Regierung respektiert unsere Autonomie und unsere
Souveränität nicht. Sie missachtet die Menschenrechte derjenigen, die in ihren
Gemeinden dafür arbeiten, dass sich das Virus nicht weiter ausbreitet. Zum
Beispiel hat die Polizei versucht, die Menschen einer Gemeinde im Department
Cortés daran zu hindern, dass sie ihre Gemeindegrenzen einzäunen. Wenn der
Staat schon nicht hilft, muss er wenigstens unsere Arbeit respektieren, denn
wir haben ein Recht darauf, für unsere eigene Gesundheit zu sorgen und auch
darauf, dies auf eine Art und Weise zu tun, die unserer Kultur und Identität
entspricht. Das ist ein Thema, für das wir immer kämpfen mussten. Die Arbeit, die
wir geleistet haben, wird missachtet. Zum Beispiel wurde staatlicherseits zu
Beginn der Pandemie gesagt, dass wir Masken tragen müssen, aber hier haben die
Menschen keinen Zugang zu einer Maske. Also haben wir unser eigenes System zur
Herstellung von Masken entwickelt. Anfangs haben sie gesagt, dass die selbst
hergestellten Masken, nichts taugen.
Worin ist diese Missachtung Ihrer Meinung nach begründet?
Das hat mit vielen Dingen zu tun. Dahinter stecken
wirtschaftliche Interessen, aber es hängt auch mit Rassismus zusammen, da es
eine Missachtung dessen ist, was die Menschen selbstbestimmt tun. Wenn etwas
nicht wissenschaftlich erwiesen ist, wird dem jeglicher Wert abgesprochen. Und
es sind dieselben Unternehmen, die das entscheiden, die in der Krise durch die
Produktion von unter anderem Masken eine Menge Geld verdienen. Sie haben auch
gesagt, dass unsere medizinischen Tees nichts nutzen. Mittlerweile trinken alle
Leute Tee, weil sie wissen, dass sie ihr Immunsystem stärken müssen und es
keinen Sauerstoff zu kaufen gibt. Dies zeigt, dass das Wissen unserer Vorfahren
und Vorfahrinnen sowohl eine Antwort auf die derzeitige Gesundheitskrise gibt
als auch auf die Pandemien, die noch kommen werden. Diesem Wissen muss wieder
mehr Wert zugesprochen werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass einfach zur
sogenannten Normalität zurückgekehrt wird, sondern wir sollten diese Pandemie
nutzen, um dieses System in Frage zu stellen, in dem die Wirtschaft wichtiger
ist als Menschenleben, nicht nur in Honduras, sondern auf der ganzen Welt.
// Interview: Sarah Weis
*In dem Webinar „Luchas actuales de los Garífuna en Honduras“ unter https://www.fdcl.org/2020/06/mitschnitt-input-miriam-miranda-ofraneh/ berichtet
Miriam Miranda weiteres über die Kämpfe der Garífuna gegen
Extraktivismus und organisierte Kriminalität sowie über das Projekt der
Ernährungssouveränität in dem selbstverwalteten Dorf Vallecito.