Dienstag, 27. November 2018

Melonenplantagen in Honduras: Beschäftigte ohne Rechte

Sozialversicherungsleistungen und Recht auf Organisierung abgeschafft. Betroffen sind vor allem die Angestellten eines der größten Fruchthändlers der Welt

Tegucigalpa. Als "sehr schwerwiegend" hat die Gewerkschaft der Agrarindustriearbeiter (Sindicato de Trabajadores de la Agroindustria y Similares, Stas) die kürzlich vom Ministerium für Arbeit in Honduras getroffene Entscheidung bezeichnet, dass Saisonarbeiterinnen und -arbeiter auf Melonen-Plantagen kein Recht auf Sozialleistungen, Sozialversicherung und Organisation haben.

Im Jahr 2017 startete die internationale Kampagne "Gewerkschaftsfreiheit und Fairness für Fyffes-Beschäftigte" der  Make Fruit Fair! Campaign
Im Jahr 2017 startete die internationale Kampagne "Gewerkschaftsfreiheit
 und Fairness für Fyffes-Beschäftigte" der Make Fruit Fair! Campaign 
  Quelle: makefruitfair
Zusätzlich wurden Verwaltungsbeschlüsse getroffen, "die die Würde der Arbeiter in den Melonen-farmen von Fyffes/Sumitomo im Süden von Honduras ernsthaft beinträchtigen", so der Stas-Vorsitzende Tomás Membreño. Nicht nur würden tausenden Beschäftigten ihre Rechte entzogen, auch seien die Betriebsgruppen der Gewerkschaft für illegal erklärt worden, während gleichzeitig zwei von Unternehmen gegründete Gewerkschaften rechtlich anerkannt wurden. "Wieder einmal müssen wir die Absprachen zwischen Behörden und Unternehmern sowie die Verletzung von Arbeits- und Gewerkschaftsrechten anprangern, die durch nationale Gesetze und internationale Übereinkommen garantiert werden", fügte er hinzu.

Das irische Unternehmen Fyffes, das 2017 vom japanischen Konzern Sumitomo übernommen wurde, ist einer der weltgrößten Fruchthändler und zählt zu den größten Fruchtimporteuren und -Großhändlern Europas. Gehandelt werden vor allem Bananen, Ananas, Melonen und Pilze. Nach eigenen Angaben der Konzern Hauptimporteur von Bananen "und der führende Vermarkter von Bio- und Fairtrade-Bananen" in Europa. Das Unternehmen ist wegen wiederholter Vorwürfe von Rechtsverletzungen in den Melonen- und Ananasplantagen von Honduras und Costa Rica im Jahr 2017 von der Mitgliedschaft in der britischen Ethical Trade Initiative (ETI) ausgeschlossen worden. Dies scheint die Nichtregierunsorganisation Fair Trade USA indes nicht zu stören: im April dieses Jahres hat sie seiner Tochtergesellschaft Sur Agrícola de Honduras (Suragroh) die Fair-Trade-Zertifizierung verliehen.

Zu den gröbsten Verstößen der Fyffes-Töchter Suragroh und Melón Export S.A. (Melexsa), die von honduranischen Gewerkschaften sowie vom lateinamerikanischen Zweig der Internationalen Gewerkschaft der Nahrungsmittelarbeiter (Rel Uita) angeprangert werden, gehören die Verlängerung von Arbeitstagen, die Nichtzahlung von Mindestlöhnen, Überstunden und Urlaub.

Sozialversicherungsbeiträge würden nicht bezahlt und die Dauer der Betriebszugehörigkeit nicht berücksichtigt. Die Gewerkschafter weisen zudem auf schlechte Hygiene- und Sicherheitsbedingungen sowie auf wiederholte Fälle von Vergiftung, auf die Entlassung von Arbeiterinnen wegen Schwangerschaft und die Erstellung von "schwarzen Listen" hin. Laut Membreño haben die Firmen sich zudem geweigert, die Legitimität der Betriebsgruppen der Stas anzuerkennen. Die in ihr organisierten Arbeiter seien innerhalb und außerhalb der Melonenfarmen systematisch schikaniert worden.

Bezüglich der neu gegründeten Gewerkschaften Sitrasuragroh und Sitramelexsa merkt Membreño an, diese würden vom Verwaltungspersonal der beiden Tochterfirmen gefördert und seien mit ihren Vertrauenspersonen besetzt. "Das einzige Ziel ist vorzutäuschen, dass die Rechte in den Plantagen respektiert werden und so die internationale Kampagne zu schwächen". Seit Anfang 2017 läuft die Informations- und Protestkampagne "Gewerkschaftsfreiheit und Fairness für Fyffes-Beschäftige",  bei der weltweit aufgerufen wird, E-Mails an den Vorstandsvorsitzenden David McCann zu schicken.

Das Arbeitsministerium habe mit seiner Entscheidung einen sehr gefährlichen Präzedenzfall für die Leiharbeiter aller Bereiche geschaffen: Einerseits werden ihnen Sozialleistungen und soziale Sicherheit verweigert, andererseits das Recht auf Vereinigungsfreiheit und Tarifverhandlungen abgeschnitten. Um dem entgegenzutreten, hat die Stas über ihren Anwalt Beschwerde beim Obersten Gerichtshof eingereicht und wird dies auch vor internationalen Gremien tun. In den vergangenenTagen ist eine internationale Delegation in das Gebiet gekommen, um Informationen und Daten für einen Bericht zu sammeln, der bei Verhandlungen vorgelegt werden soll.

Samstag, 24. November 2018

Weitere Migranten an US-Grenze, US-Richter beschränkt Trump-Dekret

Zweite Gruppe von Geflüchteten in Grenzstadt Tijuana. Mexikanische Rechte demonstrieren. Auch Solidarität mit Migranten. Disput um Trump-Politik


Baja California, Mexiko. Eine weitere Gruppe von gut 2.500 Migranten ist vor wenigen Tagen in der mexikanischen Stadt Tijuana an der Grenze zu den USA angekommen. Die Teilnehmer des Protestmarsches waren meist aus Honduras zu Fuß bis in den nördlichen Bundesstaat Baja California gelaufen. Während die Migranten auf die Gelegenheit zur Einreise in die USA warten, um Asyl zu beantragen, schränkte die US-Justiz eine einwanderungsfeindliche Verordnung von US-Präsident Donald Trump ein.

Willkommen Kaffee  für Migranten
Solidarität: Einwohner in Tijuana bieten Migranten "Hoffnung und Kaffee" an
Bundesrichter, Jon Tigar aus  San Francisco hat eine Verordnung, die Donald Trump Anfang November erlassen hatte, zeitweise beschränkt. Laut dem Präsidialdekret sollte Asyl für Einwanderer ohne Papiere in den USA grundsätzlich abgelehnt werden. Der Bundesrichter begründete seine Entscheidung damit, dass die Verordnung von Trump gegen das geltende Einwanderungsgesetz verstößt. Der Regelung zufolgehat jeder Migrant, der sich in den USA befindet, das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Laut US-Medien, ist die von dem Bundesrichter angeordnete Beschränkung bis zum 19. Dezember gültig.

Freitag, 23. November 2018

Systematische Aggressionen und Unregelmäßigkeiten bei der Bewilligung des Bergbauunternehmens Los Pinares


Pressekonferenz zur gewaltsamen Räumung des friedlichen Blockadecamps Guapinol

15. November 2018 von Radio Progreso, kommentiert durch Anna Rösch

Der vorläufige Bericht der Koalition gegen Straflosigkeit hebt Unregelmäßigkeiten in der Erteilung der Bergbaubewilligung im Landkreis Tocoa, Colón hervor – ein Bericht, der kürzlich nach einem Besuch in der Gemeinde Guapinol verfasst wurde.

Der Bericht, der diese Wochen in den Medien veröffentlicht wurde, legt dar, dass die Bewilligung des Bergbauprojektes an Inversiones Los Pinares [[1]], Eigentum von Lenir Perez, ein Zusammenspiel von gesetzwidrigen Verstößen und Korruption ist, ein Projekt, das den Landkreis in eine Krise stürzt und seine Gemeinden entzweit.

Polizisten und Soldaten räumen das Camp in Tocoa Foto: Proceso.hn
Der Bericht verdeutlicht die Kriminalisierung der Menschenrechts-verteidiger und –verteidigerinnen des [Blockade-] Camps Guapinol. Sie werden der widerrechtlichen Anmaßung (usurpación) beschuldigt, erläutert Edy Tábora, Anwalt und Mitglied der Koalition gegen Straflosigkeit. [Gegen 18 Menschenrechtsverteidiger*innen wurden Haftbefehle erteilt. Anm.d.Red.]



Samstag, 17. November 2018

Junkerland in Bauernhand

Soliparty für politische Gefangene in Honduras

30.11.2018, ab 22:00 New im York Bethanien

Mit der Soliparty rufen wir zu internationaler Solidarität mit den politischen Gefangenen in Honduras auf. Nach den Wahlen im November 2017 kam es zu Protesten gegen den Wahlbetrug. Gegen die Proteste wurden von staatlichen Sicherheitskräften brutal vorgegangen. Tausende Menschen wurden während der Proteste kurzzeitig verhaftet. Fünf der Verhafteten wurden jedoch nicht wieder freigelassen, unter ihnen die zwei Aktivisten: Edwin Espinal und Raúl Àlvarez. Beide sind im Hochsicherheitsgefängnis „La Tolva“ inhaftiert und werden beschuldigt, Akte von Vandalismus am Hotel Marriot in Tegucigalpa ausgeführt zu haben. Die Anklagen dienen als Vorwand, um langjährige Aktivisten zu inhaftieren.

Live Musik: Esels Albtraum DJ - Lucha amada ( latín ska, radical mestizo, cumbia, reggae, hiphop) - Tamson ( hihop female rebel) - El Vago (tropical/cumbia) - PARANORMAL UNFALL (UK BASS MUSIC/HOUSE/TECHNO/AMBIENT/STEP) .

New Yorck im Bethanien Mariannenplatz 2A, 10997 Berlin U Görlitzer Bahnhof, Kottbuser Tor; S Ostbahnhof Bethanien-Südflügel, Eingang rechts

Donnerstag, 15. November 2018

Erste Gruppe der Karawanen aus Mittelamerika erreicht US-Grenze

Migranten wollen Asylanträge stellen. Trump lässt Grenzposten und Zäune verstärken. Weitere vier Karawanen haben sich auf den Weg Richtung USA gemacht
Unter den Geflüchteten aus Honduras, El Salvador und Guatemala sind zahlreiche Frauen und Kinder
 Mexiko-Stadt. Am Dienstag hat die erste Gruppe der Geflüchteten aus Mittelamerika mit rund 475 Menschen nach einem Monat die US-Grenze erreicht. Die Karawanen der Migranten aus Honduras, El Salvador und Guatemala ziehen unterdessen weiter gen Norden. Ihr Ziel ist nach wie vor die Überschreitung der mittlerweile schwer bewachten Grenze zu den USA. Einige stellten Asylanträge in Mexiko oder kehrten um.

Die Karawane hatte sich nach einem kurzen Stopp in Mexiko-Stadt weiter auf den Weg in den nördlich gelegenen Bundesstaat Jalisco gemacht. Mit LKW und Privatfahrzeugen kamen am Montag mehr als 3.600 Kinder, Frauen und Männer in der zweitgrößten Stadt Mexikos, Guadalajara an. Dort wurden sie in einem Auffanglager untergebracht, das mit Hochsicherheitsmaßnahmen bewacht wird. Von dort aus geht es trotz der Drohungen des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump weiter in die USA. Er hatte seit Beginn des Marsches versucht, die Menschen zur Umkehr zu bewegen. Seine Abschreckungspolitik beinhaltet die verstärkte Militarisierung der Grenze sowie ein Dekret zur Verschärfung von Asylverfahren, wonach nur noch bei Grenzübertritt an offiziellen Übergängen eine Antragsstellung erfolgen kann.

Etwa 475 Migranten, die zur ersten Karawane aus Honduras gehören, sind sich nun im mexikanischen Staat Tijuana angekommen, der direkt an die USA grenzt. Unter ihnen ist auch eine Gruppe der LGTBI-Gemeinschaft, die beabsichtigt, in den USA Asyl zu suchen. Während sich die Migranten der Grenze nähern, intensivieren die Behörden die Sicherheitsmaßnahmen: 5.000 Soldaten stehen bereit, Stacheldrahtzäune wurden installiert, um illegale Einreisen zu verhindern.

Sie hätten jedoch gar nicht vor, in das US-Gebiet einzudringen, ohne vorher Asyl zu beantragen, sagte Karawanenmitglied César Mejía. Die Anträge sollten am heutigen Donnerstag gestellt werden. Es sei geplant, in Gruppen von fünf bis zehn Personen zum Grenzposten Garita El Chaparral zu gehen und sie dort der US-Einwanderungsbehörde zu übergeben.

Dienstag, 13. November 2018

Die USA sind verantwortlich für die illegale Einwanderung von Lateinamerikanern

Hintergründe zur aktuellen Migrantenkarawane, zur Situation undokumentierter Zuwanderer und den Profiteuren in den USA
Rast in Chiapas, im Süden von Mexiko: Familien aus Honduras,  Guatemala und El Salvador auf dem Weg in die USA
Rast in Chiapas, im Süden von Mexiko: Familien aus Honduras, Guatemala und
Eine Nachricht geht um die Welt: die Migrantenkarawane wächst und rückt auf die USA vor ‒ und sie nimmt auf ihrem Weg neue Gruppen von Menschen auf. Sie sind wegen der in ihren Herkunftsländern bestehenden, vom Neoliberalismus verursachten sozialen und wirtschaftlichen Situation verzweifelt. Das Merkwürdige an diesem Phänomen ist, dass dies trotz der hysterischen Drohungen Donald Trumps geschieht, alle möglichen Repressalien, einschließlich des Einsatzes der Armee zur Anwendung zu bringen, um eine Überquerung der Grenze zu Mexiko zu verhindern.
Tod, Ausbeutung und Schikanen, die von Schleppern und Menschenhändlern verursacht werden, sind einige der Gefahren und Missbräuche, mit denen die Immigranten konfrontiert sein können, bevor sie ihr Ziel erreichen.

Montag, 12. November 2018

Aktivist unserer Partnerorganisation Asociación LGBT* Arcoíris de Honduras ermordet

Zusammenhang mit Hetzkampagne gegen Gleichstellungsgesetz nicht auszuschließen

TEGUCIGALPA (oeku-buero. 10.11.2018) 8.November 2018. Gegen 21 Uhr Ortszeit. Jonathan Escobar Cruz erhält einen Anruf und tritt aus seinem Haus in Comayagüela (Hauptstadt-Distrikt). Vier Männer kommen aus zwei Richtungen auf ihn zu, feuern und verschwinden. Der Leichnam weist Spuren von 20 Schüssen auf. Jonathans Gesicht ist vollständig zerstört. Er wurde 32 Jahre alt. Jonathan war langjähriger Aktivist der LGBT*Organisationen Arcoíris de Honduras und APUVIMEH.

Jonathan wurde seit Jahren immer wieder bedroht. Bereits 2013 hatte ihm die Interamerikanische Menschenrechtskommission Schutzmaßnahmen zugesprochen. Wenige Tage vor seiner Ermordung wandte er sich an den Schutzmecha-nismus für Menschenrechtsvertei-diger*innen, Journalist*innen und Justizpersonal und erstattete Anzeige bei der Staatsanwaltschaft. Aus den „üblichen“ Morddrohungen war eine konkrete Aktion geworden. Schwer bewaffnete vermummte Männer waren in einem Kleinbus ohne Nummernschild zu seinem Haus gekommen, hatten es durchsucht und allen Anwesenden Angst eingejagt. Auch Jonathans Familie fürchtet nun um ihr Leben.

Samstag, 10. November 2018

Karawane von Geflüchteten passiert Mexiko-Stadt, Berichte von Entführungen





Nach einigen Tagen in Mexikos Hauptstadt will Karawane Marsch fortsetzen. 100 Migranten gelten als vermisst. Trump will Bedingungen für Asyl verschärfen

 

 Mexiko-Stadt. Aus den mexikanischen Bundesstaaten Veracruz und Puebla gibt es Berichte, wonach möglichweise bis zu 100 Flüchtende, die Teil der seit einigen Wochen von Honduras in Richtung USA ziehenden Karawane waren, entführt worden sein sollen. Der größte Teil der Karawane, die sich am 12. Oktober aufgemacht hat, kam bereits vergangenes Wochenende in der Hauptstadt Mexiko-Stadt an. Nach einem Treffen mit dem gewählten mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador und dem negativen Bescheid des Hohen Kommissariats für Menschenrechte der Vereinten Nationen, ihnen Busse zur Weiterreise in Richtung Norden bereitzustellen, wollte die Karawane am gestrigen Freitag wieder zu Fuß aus der Hauptstadt aufbrechen.

Mittwoch, 7. November 2018

Protestierende Jugend

                                                               von Rita Trautmann, in E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit

Rund 60 Prozent der honduranischen Bevölkerung ist unter 30 Jahre alt. Junge Menschen sind von Arbeitslosigkeit, Armut, Gewalt und Perspektivlosigkeit betroffen. Sie kämpfen für eine bessere Zukunft.

Bildung verbunden mit der Hoffnung auf gute Arbeitsplätze hat einen sehr hohen Stellenwert in Honduras. Berufe im Staatsdienst, wie Lehrkraft oder in der Pflege, waren und sind sehr beliebt. Doch die Hoffnung auf eine sichere Anstellung erfüllte sich in den vergangenen Jahren immer weniger. Fast 40 Prozent der Bevölkerung sind von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung betroffen. Hinzu kommt, dass viele im informellen Sektor und in der Landwirtschaft mit prekären Arbeitsbedingungen tätig sind (siehe auch Beitrag von Korinna Horta in E+Z/D+C e-Paper 2018/11).

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Dienstag, 6. November 2018

"Mexiko ist ein Friedhof"



Seit acht Jahren sucht Ana Enamorado nach ihrem Sohn. Wie aus einer Mutter eine Aktivistin wurde, die alles diesem Ziel unterordnet

 
Seit acht Jahren sucht Ana Enamorado nach ihrem Sohn
 
Wir treffen uns am frühen Abend beim Revolutionsdenkmal in Mexiko-Stadt. Die Sonne taucht das Monument in ein warmes Licht, das viele Leute für Erinnerungsfotos oder Selfies nützen. Obwohl es unsere erste Begegnung ist, beginnt Ana ohne Umschweife zu erzählen. "Meine Geschichte hat kein Ende", lautet einer ihrer ersten Sätze. Sie hat ein Porträtfoto mitgebracht, das sie mit ernster Miene mustert bevor sie es in die Kamera hält. Darauf zu sehen ist ihr Sohn Óscar. Er war 17, als sie ihn zum letzten Mal gesehen hat.

Ana Enamorado stammt aus Honduras. Dass sie eines Tages ihr Leben dort hinter sich lassen, nach Mexiko ziehen und auch in viele andere Länder kommen würde, hätte sie sich nie vorstellen können. Bis nach Italien und Deutschland hat sie es schon geschafft – jedoch nicht als Touristin. "Geschichten wie meine sind hart. Aber es ist wichtig, dass sie bekannt werden", sagt sie trocken. Ana arbeitet für das Movimiento migrante mesoamericano (Mesoamerikanische Migrantenbewegung), eine kleine, ehrenamtlich tätige Organisation, die in Mexiko nach vermissten zentralamerikanischen Migranten sucht. Óscar ist vor acht Jahren verschwunden. Ob er Opfer eines Gewaltverbrechens wurde oder noch lebt, Ana weiß es nicht. Wie tausende andere Familien in Honduras, El Salvador oder Guatemala, deren Angehörige unauffindbar sind, sucht sie Gewissheit.

Mexiko ist sowohl Ausgangspunkt, Ziel als auch Durchreiseland für Migranten. Viele Zentralamerikaner versuchen durch Mexiko in die USA zu gelangen. Wer scheitert, verschwindet im wahrsten Sinne des Wortes, denn es gibt nicht einmal eine offizielle Statistik, die die Vermissten zählt. Die irreguläre Migration wird von offiziellen Stellen kaum thematisiert. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass jedes Jahr zehntausende Migranten auf mexikanischem Boden verschwinden, die genaue Zahl kennt niemand. Viele Familien würden ihre Vermissten aus Angst oder Unwissenheit nicht melden, erklärt Ana. Die, die es tun, stoßen auf Untätigkeit. Anas Gesicht wird hart, wenn sie über ihren Kontakt mit den Behörden spricht. "Sie kennen die Wahrheit", sagt sie bitter, "Aber anstatt etwas zu tun, vertuschen sie. Oder machen mit." Tatsächlich gab es immer wieder dokumentierte Fälle, in denen die Migrationsbehörde oder die Polizei mit Menschenhändlern oder Drogenkartellen zusammenarbeitete. Die Entführung der Migranten ist ein lukratives Geschäft, entweder um Geld von ihnen oder ihren Familien zu erpressen oder um sie als Zwangsarbeiter einzusetzen.

Óscar brach 2008 in die USA auf. In Honduras war ein normaler Alltag unmöglich geworden. Das zentralamerikanische Land gehört zu den gefährlichsten der Welt und rangiert in den weltweiten Mordstatistiken seit Jahren ganz oben. Gewalttätige Jugendbanden dominieren das Leben der Menschen. "Früher war unsere Nachbarschaft ruhig", erzählt Ana. "Aber mit der Zeit wurde es schlimmer. Irgendwann gab es täglich Morde". Die Gangs würden alle Jugendlichen rekrutieren, die sie finden. Wer nicht mitmache, werde ermordet. Óscar ging weiterhin zur Schule, konnte aber nichts mehr mit Freunden unternehmen, sein Zuhause wurde zu einem Gefängnis. Mit 17 fasste er den Entschluss, Honduras zu verlassen. "Damals begann mein Leidensweg", sagt Ana. Óscar schaffte es zwar, sich in die USA durchschlagen und Arbeit zu finden. Anfang 2010 wurde die Sehnsucht nach seiner Familie aber so groß, dass er den riskanten Weg in die Gegenrichtung antrat. Im Bundesstaat Jalisco riss der Kontakt ab.

 
Ana Enamorado aus Honduras lebt jetzt in Mexiko, wo ihr Sohn 
Ana wollte sich nicht mit dem Verschwinden ihres Sohnes abfinden und begann auf eigene Faust, zu suchen. 2012 beschloss sie, nach Mexiko zu ziehen. Die Trennung von Familie und Freunden sowie das Scheitern ihrer Ehe nahm sie in Kauf. Gemeinsam mit anderen Betroffenen gründete sie das Movimiento migrante mesoamericano. Das Kernteam besteht aus vier Personen. Ein Büro können sie sich nicht leisten. Jedes Jahr im Herbst organisieren sie eine sogenannte Karawane durch diejenigen Bundesstaaten Mexikos, durch die die wichtigsten Migrationsrouten verlaufen. Sie wollen einerseits Bewusstsein dafür schaffen, dass jedes Jahr tausende Menschen verschwinden. Andererseits suchen sie – in Gefängnissen, Krankenhäusern, entlegenen Dörfern. "Mexiko ist ein Friedhof", sagt sie. "Wir gehen auf Leichen." Immer wieder gelingt es der Gruppe, Fälle aufzuklären. Manchmal finden sie jemanden sogar lebend. "Dieses Glück bei den Angehörigen zu erleben, das gibt mir Kraft", schildert Ana. "Als mein Sohn verschwand, hatte nichts mehr Sinn in meinem Leben. Dann habe ich die Dimension des Problems begriffen. Die Wut hat sich in Stärke verwandelt."

Die vorherrschende Version, die mittelamerikanischen Migranten würden aus wirtschaftlichen Gründen in die USA gehen, will Ana nicht gelten lassen. "Das war vielleicht früher so. Heute ist es die zunehmende Gewalt, die sie forttreibt", sagt sie. Nichts werde diese Migration aufhalten, erklärt sie bestimmt. "Egal was für Mauern Trump baut, es wird weitergehen. Diese Jugendlichen müssen raus aus ihrer Umgebung, um ihr Leben zu retten. Niemand will sein Zuhause zurücklassen, aber sie haben keine Wahl."

Anas Suche hat bisher kein Ergebnis gebracht. 2015 erhielt sie einen Anruf von der Staatsanwaltschaft in Jalisco, dem letzten bekannten Aufenthaltsort ihres Sohnes. Man habe einen Toten gefunden und als Óscar Antonio López Enamorado identifiziert, hieß es. Als Ana hinfuhr, wollte ihr der Beamte ein Behältnis mit Asche überreichen. Die Leiche war ohne ihr Wissen eingeäschert worden. Sie verlangte die Kleidung und das Telefon zu Gesicht bekommen zu dürfen. Die Objekte waren verschwunden. "Gleichzeitig versuchten sie mich davon zu überzeugen, dass dies mein Sohn sei. Aber ich weigerte mich, das zu glauben." Ana kämpft gegen die Tränen, als sie das Erlebnis schildert. "Wir sind kein Spielzeug. Wir haben das Recht auf Unterstützung. Aber für sie ist es besser, wenn wir uns nicht zu helfen wissen." Auch die Regierungen in Zentralamerika blieben untätig, beklagt sie. Die Behörden ihres Heimatlandes hätten ihr nie geholfen, Óscar zu finden. Umso wichtiger sei es, dass die Betroffenen zusammenhalten, auch weil die Suche einem alles abverlangt, physisch, psychisch, wirtschaftlich. Daneben einer geregelten Arbeit nachzugehen ist schwer. "Ich muss auch auf mich aufpassen, das habe ich gelernt. Wenn ich nicht nach meinem Sohn suche, wird es niemand tun."

Ein Jahr später treffe ich Ana wieder, am selben Ort. Neuigkeiten über Óscars Verbleib gibt es nicht. Mit ihrer Erfahrung fungiert Ana mehr denn je als Anlaufstelle für Menschen aus Zentralamerika, die gerade erst mit der Suche beginnen. Sie gibt ihnen Tipps für den Umgang mit Behörden und teilt das erarbeitete juristische Wissen mit den Neuankömmlingen. Statt dem Bleiberecht, das ihr Mexiko gewährt hat, soll sie bald eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Sie und ihre Organisation tauschen sich auf internationaler Ebene mit anderen aus. Ana möchte, dass alle wissen was in Zentralamerika passiert. "Wir brauchen Unterstützung", sagt sie. "Das muss ein Ende haben." Bis dahin sucht sie weiter.

"Wenigstens bin ich in dem Land, in dem Oscar verschwunden ist. Mein Glück ist, dass ich nur einen Sohn habe, ich kann mich auf die Suche nach ihm konzentrieren. Die Leute sagen mir manchmal, es sei noch schlimmer für mich, weil ich nur ein Kind habe. Das glaub ich nicht. Auch wenn jemand 15 Kinder hat, lebt er nicht glücklich, wenn eines fehlt."