(Berlin, 24. November 2015, npl).- Hochtechnisierte Grenzanlagen, auf
ihrem Weg gen Norden verschwundene Migrant*innen, Deportationen in ihre
Herkunftsländer. All das hält sie nicht auf: Die Hunderttausenden, die
sich jährlich aus Guatemala, El Salvador und Honduras auf den Weg in
Richtung Mexiko und USA machen. Darunter sind mehr und mehr Frauen –
allein oder mit ihren Kindern. Frauen fliehen auch wegen erlebter
sexualisierter Gewalt – sei es häusliche Gewalt im privaten Umfeld oder
sei es Gewalt durch Sicherheitskräfte oder durch Mitglieder von Banden,
den sogenannten Maras.
Zum Beispiel Honduras
Immer wieder dokumentiert die Interamerikanische
Menschenrechtskommission CIDH (Comisión Interamericana de Derechos
Humanos) in Honduras Fälle von Menschenrechtsverletzungen.Bei einem kurzfristig angekündigten Kontrollbesuch im Dezember 2014
stellte Kommissions-Präsidentin Tracy Robinson ihre
Untersuchungsergebnisse öffentlich vor und zeigte sich besorgt über das
„alarmierende Ausmaß an Gewalt“. Neben einer der höchsten Mordraten
weltweit und den aus Honduras bekannten Fällen von Verschwindenlassen
von Menschen beklagte Robinson eine „ausgeprägt hohe Form
geschlechtsspezifischer Gewalt“.
Dazu kämen Agrarkonflikte, die wiederum gewalttätige
Auseinandersetzungen produzierten, heißt es weiterhin im Bericht der
Kommission. Dies alles geschehe „im Kontext weitgehender
Straflosigkeit“, welche u.a. „aus einer Schwäche der staatlichen
Institutionen, Korruption und fehlender Unabhängigkeit der Justiz“
resultiere.
Die Rolle Mexikos
Trotz aller Regierungsprogramme zur Reduzierung von Migration bleibt
die Zahl der Migrierenden hoch und auch die Gesamtzahl der Abschiebungen
geht nicht zurück. Allein von Januar bis Oktober 2015 wurden über
55.000 honduranische Männer und Frauen aus den USA und Mexiko zurück
nach Honduras deportiert.
Verändert hat sich allerdings die Rolle Mexikos. Während 2014 die
meisten Abschiebungen nach Honduras noch von den USA aus stattfanden,
stiegen 2015 die Abschiebungen aus Mexiko auf über 60 Prozent.
Harte Vorwürfe – harte Fakten
Bruder Fray Tomas betreibt die Migrantenunterkunft „La 72“ in
Tenosique im mexikanischen Bundesstaat Tabasco, unweit der Grenze zu
Guatemala.
Er kritisiert, Mexiko habe sich „mit einer blutigen Migrationspolitik
beschmutzt“, sei zum „Handlanger der USA“ geworden und verrate dabei
Mittelamerika. Migrant*innen würden kriminalisiert und massiv behindert,
wenn sie Mexiko als Transitland durchqueren. In seiner Unterkunft „La72“,
deren Name an die 72 Migrant*innen aus Mittel- und Südamerika erinnert,
die im Jahr 2010 auf ihrem Weg in die USA massakriert und im Norden
Mexikos tot aufgefunden wurden, bietet Fray Tomás einen Schutzraum für
die Menschen auf der Transitroute. Er weiß, dass der „Transit“, die
Migration weitergehen wird, Fluchtgründe gebe es genügend.
So konstatiert auch die CIDH „eine anhaltend hohe Rate von Armut und
sozialer Ungleichheit“. Große Teile der Bevölkerung in der Region hätten
keinen ausreichenden Zugang zu Grundnahrungsmitteln,
Gesundheitsversorgung und Bildung. Fehl- oder Unterernährung seien
insbesondere bei Kindern, indigenen und afro-amerikanischen
Gemeinschaften sowie der Landbevölkerung zu beobachten. Laut
Kommissionsbericht seien diese Gruppen und auch andere wie Frauen und
Trans*Personen „überproportional von Arbeitslosigkeit und Niedriglöhnen
betroffen sowie gesundheitlichen Risiken ausgesetzt“.
Mehr und mehr Frauen
Waren es vor ein paar Jahren noch fast ausschließlich Männer, die
sich auf den Weg in die USA machten, um von dort aus dann mit Remesas,
ihren Geldsendungen in die Heimat, die zurück gebliebenen Familien zu
ernähren, sind heute auch viele Frauen auf der Strecke unterwegs, und
häufig mit ihren Kindern. Selbst unbegleitete Kinder und Jugendliche
machen sich immer öfter auf diesen riskanten Weg.
Padre Flor Maria Rigoni, der Betreiber einer Migrantenherberge in
Tapachula, im Bundesstaat Chiapas im Südwesten Mexikos, beobachtet die
stark gestiegene Zahl von Frauen, die los ziehen: „In manchen Monaten
kommen bis zu 30 Prozent Frauen“ berichtet er, und weiter „sie kommen
manchmal mit bis zu fünf Kindern, Babys!“
Eine Ursache: Gewaltverbrechen gegen Frauen
Doch warum machen sich mehr und mehr Frauen auf den Weg? Im Bericht
der Interamerikanische Menschenrechtskommission über Honduras heißt es:
„Von 2010 bis November 2014 wurden 2.592 Frauen ermordet. Allein
zwischen Januar und November 2014 wurden 453 Morde an Frauen gezählt.
Unsere Informationen besagen, dass in Honduras im Durchschnitt alle 17
Stunden eine Frau umgebracht wird.“
Einundsiebzig Prozent der ermordeten Frauen seien durch Schusswaffen
getötet worden. Der Staat habe keine ausreichenden Schutzmaßnahmen gegen
Gewalt ergriffen wie z.B. durch eine wirksame Kontrolle des
Waffenbesitzes. Die Kommission erhielt auch Berichte über „fortgesetzte
sexualisierte Gewalt gegen Frauen seitens staatlicher Akteure, z.B. auch
durch die Militärpolizei“.
Frauen, die vor der Gewalt zu Hause flüchten, wollen mit der Flucht
oft nicht nur sich, sondern auch ihre Kinder schützen. Wie Bessy
Fajardo, die mit ihrer neunjährigen Tochter und dem dreijährigen Sohn
unterwegs ist und in der Herberge in Tapachula vorübergehend Schutz
gefunden hat. Sie hatte in einem der Armenviertel von San Pedro Sula,
der im Norden von Honduras gelegenen Wirtschaftsmetropole, einen Laden
für Second Hand-Klamotten. Irgendwann kamen junge Leute in ihr Geschäft
und forderten Geld von ihr.
Zuerst nahm sie es nicht ernst, doch dann kam die Drohung und sie
begriff: „Als ich diesen Anruf bekam, war klar, jetzt ist es ernst. Mir
war klar, jetzt muss ich für die Kinder Pässe besorgen und das Land
verlassen. Weil sie mich sonst umbringen, wenn ich diese Miete – wie
dort das Schutzgeld genannt wird – nicht zahle.“
Verändertes Selbstbewusstsein
Vor wenigen Jahren hätte in so einem Fall die Mutter, die sich auf
den Weg macht, die Kinder bei Großeltern oder Tanten abgegeben und mit
Geldsendungen für sie gesorgt. Heute nehmen immer mehr Frauen ihre
Kinder mit.
Padre Flor Maria Rigoni beobachtet, „dass diese Frauen heute viel
bewusster mit ihrer Rolle und ihrer Geschichte umgehen. Sie sehen sich
unabhängiger von den Ehemännern und dem machistischen Modell. Also dem
schicksalhaften Hinnehmen von Dingen wie: er trinkt, okay, er schlägt
dich, so ist es halt, ertrag es!“
Bessy Fajardo erzählt, ihr Mann habe sie und die Kinder „oft verbal
misshandelt“ und erklärt: „Für mich war klar, ich kann nur mit den
Kindern aus Honduras weg, ich kann sie nicht bei ihm lassen.“ Sie habe
die Kinder ohne sein Wissen mitgenommen, denn das hätte ihr Mann aus
seiner machistischen Haltung heraus nie zugelassen. Auch ihre
Kindheitserfahrungen drängten sie zum Handeln: „Mit sechs Jahren wurde
ich von meinem Stiefvater missbraucht. Deswegen bin ich nicht bei meinen
Eltern, sondern bei den Großeltern aufgewachsen.“ Für ihre Kinder will
sie jetzt nur das Beste.
Quelle: Erika Harzer und Ute Löhning, Nachrichtenpool
Lateinamerika