Freitag, 28. Juli 2023

Gemeindeversammlung im Schatten der Konzerne

Reportage zu einer Gemeinderatswahl im Territorium der indigenen Tolupanes

von Rita Trautmann,

aus: Lateinamerika Nachrichten, v. 28.7.2023

Das Territorium der indigenen Tolupanes ist für Holz- und Bergbauunternehmen ökonomisch sehr interessant. Ohne Berücksichtigung der Menschenrechte und der ILO-Konvention 169 setzen sie ihre Interessen häufig gewaltsam durch. Im Frühjahr dieses Jahres begleitete die MADJ, die Breite Bewegung für Würde und Gerechtigkeit, die Neuwahl des Gemeinderates in der indigenen Gemeinde San Francisco Locomapa. Auf Bitte von MADJ nahm LN-Autorin Rita Trautmann aufgrund der Gefährdung der Kandidat*innen als Menschenrechtsbeobachterin an der Gemeindeversammlung teil.

Der neue Consejo Directivo, Foto: HondurasDelegation 

Noch vor Sonnenaufgang treffe ich an einem Sonntag im März dieses Jahres vier Kolleg*innen von MADJ, eine der wichtigsten sozialen und politischen Menschenrechtsbewegungen in Honduras. Gemeinsam fahren wir mit einem Pick-up in die Gemeinde San Francisco de Locomapa der indigenen Tolupanes. Die bergige und waldreiche Region liegt im Distrikt Yoro im nördlichen Honduras. Vor allem aber ist sie sehr abgelegen und nicht einfach zu erreichen. MADJ hat mich als Vertreterin des Menschenrechtskollektivs CADEHO gebeten, sie bei der Fahrt zu einer Gemeindeversammlung als Menschenrechtsbeobachterin zu begleiten. Ich bin zum ersten Mal in Honduras, seitdem die linksgerichtete Partei LIBRE die Narco-Diktatur von Juan Orlando Hernández abgelöst hat und sehr gespannt auf die Veränderungen im Land unter der Präsidentin Xiomara Castro.


Nach einer Stunde Fahrt verlassen wir die asphaltierte Straße. Eine holprige Schotterpiste beginnt, die sich in Serpentinen die Berge hochschlängelt. Unterwegs durchqueren wir mehrere Flussläufe. An der ersten Flussdurchfahrt halten wir kurz an. Estefany Contreras, Anwältin der MADJ, zeigt auf die Berge: „Hier beginnt das Territorium der Tolupanes gemäß des bis heute gültigen Landtitels von 1864. Doch Anfang der 1990er Jahre, während der Regierung von Callejas, hat das nationale Agrarinstitut INA das Gebiet neu vermessen und es einfach verkleinert."

Die Berghänge waren einst komplett von Kiefernwäldern bedeckt, jetzt sind sie mit entwaldeten Schneisen überzogen. „Das Holz ist begehrt und die Unternehmen dringen immer weiter in das indigene Territorium ein, um Holz zu schlagen", erklärt Estefany weiter.

Doch nicht nur wegen der Holzvorkommen weckt das Gebiet der Tolupanes Begehrlichkeiten, es gibt auch Gold, Eisen und Antimon. Umso wichtiger ist eine juristische Vertretung der Gemeinden, die für den Schutz der natürlichen Ressourcen eintritt. Genau darum geht es in der heutigen Gemeindeversammlung. Nach zwölf Jahren soll endlich ein neuer Gemeinderat, der Consejo Directivo, für San Francisco de Locomapa gewählt werden.

Jede der 31 Tolupan-Gemeinden hat einen Consejo Directivo als legale Vertretung. Alle Tolupan-Gemeinden zusammen werden von der Föderation der Tolupanes, Fetrixy, repräsentiert.

Zur Gemeinde Locomapa gehören 22 Dörfer, die verstreut in den Bergen liegen. Wir kommen durch einige der Dörfer, die Ladefläche des Pick-up füllt sich schnell mit Menschen. Die Straße ist gesäumt von Menschengruppen, die sich auf den Weg zur Versammlung gemacht haben – häufig mit der ganzen Familie.

Als wir ankommen, werden wir bereits erwartet. Ramón Matute aus Locomapa ist erleichtert, dass MADJ mit mehreren Personen anwesend ist. Er ist einer der Kandidat*innen für den neuen Gemeinderat und betont die Notwendigkeit der Wahl. Die Mitglieder des bisherigen Gemeinderates hätten sich von den Unternehmen korrumpieren lassen. Gegen Geld gaben sie den Unternehmen die Erlaubnis zum Raubbau an der Natur. Das Geld sei jedoch nie der Gemeinde zugutegekommen. „Die Mitglieder des alten Consejo hatten kein Interesse, eine Gemeindeversammlung für eine neue Wahl einzuberufen. Aber damit muss Schluss sein, wir dürfen nicht unsere Lebensgrundlage verlieren", sagt Ramón entschieden.

Die Gemeinden der Tolupanes gehören zu den ärmsten in Honduras. Die Menschen in den Gemeinden leben von dem wenigen, was der karge Boden hergibt. Mehr als 72 Prozent der Haushalte leben in extremer Armut, fast 40 Prozent der Häuser haben nicht einmal einen Wasseranschluss. Die Analphabet*innenrate ist höher als im restlichen Land. Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sind in einem schlechten Zustand und nicht für alle Dörfer gut erreichbar.

Viele Bewohner*innen der Gemeinde Locomapa wollten seit längerem einen neuen Gemeinderat. Doch diejenigen, die sich gegen den alten Consejo stellten, wurden bedroht und eingeschüchtert. Es war ein langer und schwieriger Weg bis zur heutigen Versammlung. Denn offen gegen Unternehmen Stellung zu beziehen, ist gefährlich. Ramón Matute weiß dies. Im Februar 2019 wurden sein Vater und sein Bruder ermordet. Beide waren Landrechtsverteidiger*innen und gehörten MADJ an.

Den alten Gemeinderat abzulösen, ist eine klare Ablehnung der Machenschaften der Unternehmen. Deshalb hat die MADJ zwei weitere Menschenrechtsbeobachter*innen von Peace Watch Switzerland nach Locomapa gebeten. Dies zeigt, wie angespannt die Situation ist. Auf die staatlichen Sicherheitsorgane ist kein Verlass. Zwar wurden 18 Familien aus San Francisco Locomapa bereits 2013 von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission Schutzmaßnahmen zugesprochen, darunter fast allen Kandidat*innen. Doch meist hat die Polizei bei schweren Menschenrechtsverletzungen weggesehen und die Interessen der Unternehmen geschützt. Zur heutigen Gemeindeversammlung ist allerdings sogar die Polizei gekommen. Sie hält sich abseits und beobachtet das Geschehen.

Wer auf den Platz des Gemeindehauses will, wird vom Organisationsteam der Versammlung kontrolliert. Es wird befürchtet, dass Gegner*innen der Wahl bewaffnet zur Versammlung kommen und gewalttätig werden. Bei großer Mittagshitze beginnt die Versammlung. Es sind mehr als einhundert Menschen, die auf dem Vorplatz des Gemeindezentrums stehen, sich Luft zufächeln oder ihre Regenschirme gegen die Sonne aufgespannt haben. Die neuen Kandidat*innen, drei Frauen und fünf Männer, stellen sich vor. Es wird abgestimmt. Die Mehrheit stimmt für den neuen Consejo Directivo. Die Versammlung geht erstaunlich schnell und zum Glück reibungslos vonstatten. Anwältin Estefany Contreras von MADJ sorgt dafür, dass alle Dokumente der Wahl vollständig sind, damit der neue Consejo staatlich anerkannt wird.

„Wir unterstützen die Gemeinden aber nicht nur juristisch. Von großer Bedeutung ist die Aufklärung der Gemeinden über ihre Möglichkeiten gegen Korruption und Landgrabbing vorzugehen" berichtet Estefany nach der Wahl. Dennoch ist es für viele Tolupanes schwierig, von ihren Rechten Gebrauch zu machen. Das geringe Bildungsniveau, aber auch die Diskriminierung der indigenen Bevölkerung sind Hindernisse. Wer nicht lesen und schreiben kann, darf Ämter wie die im Gemeinderat nicht einnehmen, egal wie engagiert die Person ist.

Nachdem alle Neugewählten das Protokoll unterschrieben haben, sind sie offiziell für die nächsten zwei Jahre im Amt. Ramón Matute ist jetzt Präsident des Gemeinderates. Doch glücklich wirkt er nicht. Ebenso wenig wie Rosa Adilia Vieda, die Vizepräsidentin und die weiteren sechs neuen Ratsmitglieder. Sie alle wissen, was ihre neue Funktion mit sich bringen kann. Dennoch haben sie sich zur Wahl gestellt und ihr Amt angetreten. Ihr Mut beeindruckt mich sehr.

Zum Abschied sagt Ramón: „Ich weiß, wie gefährlich es für uns ist. Ich habe erst gestern noch an einige der bereits Ermordeten gedacht und weiß, dass wir auf dem gleichen Weg sind. Aber wir können nicht aufgeben, wir wollen unser Territorium verteidigen." Mit gemischten Gefühlen machen wir uns auf den Rückweg, wieder mit einer Ladefläche voller Menschen. Die meisten von ihnen steigen in San Francisco Campo aus, einem symbolischen Ort für die Tolupanes. Im Jahre 2013 wurden hier drei Aktivist*innen ermordet. Gegenüber des Gedenksteins für die Toten soll ein kommunales Radio entstehen, ein Vorhaben des neuen Consejo. Zurück geht es wieder durch mehrere Flussläufe und Staub weht durch die offenen Fenster. Nach einem langen Tag mit intensiven Begegnungen kommen wir müde in San Pedro Sula an.

Bereits weniger als einen Monat nach der Wahl kommt es zu einem ersten Zwischenfall. Der Eigentümer des Holzunternehmen INMARE, Wilder Dominguez, versucht einen Teil der Bevölkerung von Locomapa dazu zu bringen, einen anderen, ihm genehmen Gemeinderat zu wählen, um weiterhin Holz schlagen zu können.

Der Plan des INMARE-Eigentümer scheitert, aber er spaltet die Gemeinde. Von Dominguez korrumpierte Gemeindemitglieder greifen Ramón Matute und Rosa Adilia Vieda gewaltsam an. Zur Sicherheit muss Rosa Adilia nach diesem Vorfall für einige Zeit außerhalb der Gemeinde leben. Ihre drei Kinder müssen solange bei den Nachbarn bleiben. Dennoch steht sie zu ihrer Entscheidung, sich wählen zu lassen: „Für mich ist es wichtig, dass auch Frauen im Consejo sind. Das ist ein Zeichen an alle anderen, dass wir Frauen auch für unser Land kämpfen können."

Ein weiterer Monat vergeht, dann erhält Ramón Morddrohungen, als er mit dem Gemeinderat das Gebiet inspizierte, indem die Bergbaufirma Lachansa illegal operiert. Und leider ist davon auszugehen, dass dies nicht die letzte Morddrohung ist, die er in seinem neuen Amt erhalten wird. Denn seit den 1980er Jahren sind mehr als 100 Landrechtsverteidiger*innen der Tolupanes ermordet worden. Das ist eine erschütternde Bilanz. Die indigenen Gemeinden der Tolupanes fühlen sich in einer ausweglosen Situation, denn auf den Staat können sie nicht zählen und die Aktivist*innen werden bedroht und ermordet. Leider hat sich die Lage unter der Regierung von Xiomara Castro nicht geändert – für mich war dies ein ernüchternder Besuch vor Ort.