INTERVIEW
MIT MARTÍN FERNÁNDEZ VON DER BEWEGUNG FÜR WÜRDE UND GERECHTIGKEIT (MADJ) ÜBER
DIE VERNETZUNG SOZIALER BEWEGUNGEN
Im November fand in Tegucigalpa ein Gipfeltreffen
von Gemeinden und Basisorganisationen statt, an dem mehr als 700 Delegierte aus
rund 400 Gemeinden teilnahmen. Die Plattform der sozialen und Basisbewegungen
von Honduras (PMSPH) hatte dazu aufgerufen, sich gemeinsam mit den Auswirkungen
extraktivistischer Projekte und dem Widerstand dagegen auseinander zu setzen.
Die Gemeinden sind von Infrastrukturprojekten wie Tagebau, Wasserkraftwerken,
aber auch von riesigen Ölpalmen-Plantagen bedroht. Aktuell gibt es in Honduras
714 extraktivistische Projekte, für mehr als ein Drittel des honduranischen
Territoriums hat der Staat Bergbau- und andere Konzessionen vergeben. LN
interviewte Martín Fernández, der für die Bewegung für Würde und Gerechtigkeit
(MADJ) an dem Treffen teilnahm.
Martín Fernández (Foto: Daniela Dreißig) |
Der
Gipfel war ein Erfolg, es waren Gemeinden aus 16 der insgesamt 18 Departments in
Honduras vertreten. Ein zentrales Ziel war, einen Überblick über die Ausbreitung
der extraktivistischen Projekte zu erhalten und zu erfahren, welche Regionen und
Orte besonders betroffen sind und sich diesen Entwicklungen entgegenstellen. Wir
kommen aus ganz verschiedenen Organisationen und Gemeinden und arbeiten nun
zusammen. Unsere gemeinsame Analyse war gleichzeitig ein gemeinsamer Beginn der
Zusammenarbeit. Wir diskutierten Strategien,
wie wir dem Extraktivismus angemessen begegnen können. Diese Diskussionen haben
uns sehr motiviert, da sie gleichzeitig eine nationale Vernetzung bedeuteten. Wir
haben konkrete Erfahrungen ausgetauscht und erkannt, dass wir verschiedene Widerstandsmethoden
gegen diese Projekte anwenden und insbesondere auch Alternativen entwickeln
sollten. Der Regierung wurde deutlich gemacht, dass sie im ganzen Land auf eine
aktive Bevölkerung trifft, die sich gegen diese Projekte - gegen diese
Plünderung ihrer natürlichen Ressourcen - wehrt. In Gegenden, wo es diese
Arbeit noch nicht gibt, soll sie zum Beispiel durch unsere Organisation
unterstützt werden.
Welche Regionen sind von solchen Projekten am
meisten betroffen?
Beinahe
alle Regionen sind von diesen Projekten betroffen. Es gibt keine Region im Land, die
nicht unter den verheerenden Auswirkungen des Extraktivismus leidet. Santa
Barbara im Westen und der Süden sind besonders stark vom Bergbau betroffen, die
Territorien der indigenen Gemeinden vom Bau von Wasserkraftwerken. Auf dem
Gebiet der Lenca gibt es Bergbaukonzessionen und eine große Zahl Unternehmen
ist dort aktiv, wie auch im Department Atlántida. Heutzutage sind wir als Land
nicht mehr in der Lage, die Produktion von Lebensmitteln für die Bevölkerung
sicher zu stellen. Das liegt unter anderem an der enormen Expansion der
Ölpalm-Plantagen, besonders in den fruchtbarsten und produktivsten Regionen des
Landes. Und hierbei geht es nicht nur um die Ernährungssicherheit, die Plantagen
kontaminieren die Böden und laugen sie aus. Es wurde nachgewiesen, dass die
Anlagen zur Extraktion der Palmfrüchte nicht den vorgeschriebenen
Sicherheitsstandards entsprechen und dass es keine Kontrolle über die Abfallprodukte
gibt. Der Einsatz von Pestiziden und Kunstdünger erhöht auch die Kontamination.
Gab es eine Reaktion der honduranischen Regierung
oder ein Angebot zum Dialog nach dem Gipfel?
In den
großen Medien wurde über das Treffen nicht berichtet, aber in den alternativen,
unabhängigen Medien. Unsere Botschaft ist bei der Regierung angekommen, sie
kann diese Mobilisierung nicht ignorieren. Der Extraktivismus ist ein Problem im
ganzen Land, wir signalisieren der Regierung, dass wir uns gemeinsamen erhoben haben.
Aber die Regierung wird einer Diskussion über Extraktivismus immer ausweichen.
Er ist kein Geschäft für unser Land, sondern für die wenigen, die dieses Land
regieren. Die strukturelle Korruption macht einen Dialog unmöglich, denn er wäre
ein Angriff auf das eigene Kapital. Die Regierung ist in dieser Struktur fest
verankert. Der gewöhnliche Politiker bildet eine Einheit mit den Unternehmern.
Eine Annäherung der Regierung an die sozialen Bewegungen ist sehr kompliziert,
da es skrupellose Leute sind, wenn es um das Management von öffentlichen Gütern
geht.
Wie sieht die Arbeit von MADJ im Norden ganz konkret aus?
Die
Begleitung der Gemeinden im Norden des Landes begann nach der Gründung des MADJ
2008. Besonders im ersten Jahr war diese Arbeit sehr schwierig. Es gab ein großes
Problem mit Falschinformationen. Den Bewohnern der Gemeinden wurde über die
Projekte, die in ihrem Umfeld entwickelt wurden, immer etwas vorgemacht. Sie erfuhren
frühestens etwas Konkretes, wenn sich die Unternehmen in den Regionen fest installierten
und begannen, Bäume zu fällen, Straßen in unwegsame, bergige Gebiete zu bauen
und sie bereits die Auswirkungen in den eigenen Kommunen spürten, zum Beispiel
bei der Trinkwasserversorgung. Das Wasser für die Projekte kommt aus den höher
gelegenen Flussbecken. Einige der kommunalen Wasserversorger wurden durch die
Arbeiten an den Wassereinzugsgebieten ernsthaft beeinträchtigt, einige wurden
mit Erde bedeckt und damit war die Wasserversorgung nicht mehr gewährleistet. Das
war ein böses Erwachen für die Gemeinden, denn manche verloren von einem auf
den anderen Tag ihre Wasserversorgung. In dieser Zeit begannen die Aktivisten unserer
Bewegung, die Umweltzerstörungen und die gesundheitsschädlichen Auswirkungen auf
die Bevölkerung anzuzeigen. Wir befragten die Unternehmen und ihre Geschäftsführer,
wie sie die Genehmigungen für ihre Projekte erhalten hatten. Und in vielen,
nein in allen Projekten in Atlántida hatten sie in dieser Zeit ihre Lizenzen illegal
erhalten. Die Gemeinden wurden nie befragt und vielerorts wurden Unterschriften
gefälscht. Oftmals haben sie die Bevölkerung zusammengerufen, sie zu einem Mittagessen
eingeladen und dafür Unterschriften gefordert. Die Unterschriftenlisten wurden
dann so ausgelegt, als hätte sich die ansässige Bevölkerung mit diesen
Projekten einverstanden erklärt. Dies zog eine Reihe von Anzeigen nach sich.
Wir gingen in die Gemeinden und baten auch bei den Behörden, die die Lizenzen
erteilten, um Informationen. Es gab eine Unmenge an solchen Projekten. Auf
nationaler Ebene begannen wir Gemeinden zu sensibilisieren und darüber aufzuklären,
wie diese Unternehmen agieren. Die großen Wasserkraftwerkbetreiber wollen die
Bevölkerung glauben machen, dass sie für sie Energie produzieren.
Können Sie ein konkretes Beispiel für ein Wasserkraftwerk
nennen?
Aktuell
gibt es fünf dieser Projekte in Atlántida, bei denen weder die
Gemeindeverwaltung noch die Bewohner Nutznießer sind. Ein Beispiel ist das
Unternehmen Genera, das ein Wasserkraftwerk in La Masica betreibt. Im Jahr 2015
verdiente es ungefähr 89 Millionen Lempira (3,8 Millionen Dollar). Von diesem
Betrag zahlte Genera gerade mal 7.000 Dollar an die Gemeindeverwaltung, und das
für eine Laufzeit
von 20 Jahren. Das ist ungeheuerlich und ein Raub öffentlicher Güter!
In der
honduranischen Verfassung und in allen untergeordneten Gesetzen steht, dass die
Flüsse öffentlich sind. Es ist eigentlich nicht möglich, dass ein Unternehmen
einen öffentlichen Raum für sich beansprucht und ihn privatisiert. Es gibt das
Gesetz zum Schutz der Umwelt, die Gesundheits- und die Gemeindegesetzgebung –
all diese Gesetze sind sehr nützliche Instrumente, um den Spekulationen, zum
Beispiel in der Energieversorgung, ein Ende zu setzen.
Das klingt sehr
optimistisch, vor allem in Anbetracht des neuen Strafgesetzbuches. Darin ist ja
ein neuer Straftatbestand aufgenommen, der insbesondere Protestaktionen
verbietet, wenn davon ein Wasserkraftwerk
betroffen ist; auch wenn die Proteste sich eigentlich für den Schutz des
verfassungsmäßigen Rechts auf Wasser einsetzen.
Das neue Strafgesetzbuch ist
noch ein Entwurf, den der honduranische Kongress noch nicht verabschiedet hat.
Von unserem Standpunkt aus interpretieren wir diese Gesetzesinitiative eher als
Wegbereiter für weiteres Landgrabbing. Denn wer kontrolliert heute in diesem
Land die Gemeingüter? Die nationalen und transnationalen Unternehmen. Besonders
der genannte Artikel im Strafgesetzbuch schafft eine gewisse juristische Unsicherheit.
Es gibt keine klare Aussage, was das Delikt sein soll, von wem es verübt wird,
es ist mehr eine Leerstelle, als dass es präzise juristische Aussagen gibt. Und
außerdem ist der Artikel verfassungswidrig, denn er verstößt gegen das Recht, seine
Meinung zu äußern und sich frei zu bewegen. Er verstößt auch gegen alle anderen
bereits verabschiedeten Gesetzgebungen, die ich genannt habe. Sicher ist nur, dass
wir in einer Diktatur leben.
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Interview Daniela Dreißig, erschienen in Lateinamerika Nachrichten Nr.511 (Januar 2017)