Montag, 13. Dezember 2021

"Bei der Wahl wurden diejenigen bestraft, die das Land zugrunde gerichtet haben"

Eindeutiger Sieg für Xiomara Castro und die Oppositionskoalition. Versöhnung bedeutet nicht Straffreiheit

Von Natalie Roque Sandoval (Interview: Giorgio Trucchi) Übersetzung: Vilma Guzmán amerika21, nuevanicaraguaymas
 
Als die Wahlbehörden am Sonntagabend den ersten vorläufigen Bericht veröffentlichten, der zeigte, dass die Präsidentschaftskandidatin des Oppositionsbündnisses, Xiomara Castro, mit fast 20 Prozentpunkten Vorsprung vor Nasry "Tito" Asfura von der Regierungspartei in Führung liegt, explodierte Honduras.

Dieses Mal waren es nicht die tödlichen Kugeln, Detonationen, Bomben, Wasserwerfer oder Autos mit verdunkelten Scheiben, mit denen Menschen entführt wurden. Diesmal war es das Volk, das vor Freude explodierte und alles, was es unterdrückt hatte, zum Vorschein brachte. Es war ein echter Aufruhr. Die Botschaft war nachdrücklich und klar, und sie war unumkehrbar: keine Korruption mehr, keine Plünderung, keine Kriminellen, keine Rechtsverletzungen, keine Lügen mehr.

Natalie Roque Sandoval ist Historikerin. Zum Zeitpunkt des Staatsstreichs im Juni 2009 war sie Direktorin des Nationalen Zeitungsarchivs, einer dem Kulturministerium unterstellten Einrichtung. Weniger als einen Monat nach dem Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung wurde sie von den Putschisten entlassen. Sie beschreibt sich selbst als "Honduranerin im Widerstand, Feministin und soziale Aktivistin". Im vergangenen Jahr nahm sie die Herausforderung an, Xiomara Castro als mögliche Vizepräsidentin zu begleiten.

Infolge des im Oktober geschlossenen politischen Bündnisses zwischen Castro (Libre), Salvador Nasralla (PSH) und Doris Gutiérrez (PINU) traten Natalie Roque und Lucky Medina vor den Wahlbehörden von ihren Kandidaturen zurück und überließen sie den neuen Verbündeten. Roque hat im Übrigen nie ihr kämpferisches Engagement aufgegeben, um zum Sieg des Volkes beizutragen, der an diesem Sonntag erreicht wurde.

Wir sprachen mit ihr über den Wahlsieg von Xiomara Castro, die Wichtigkeit, das Wahlergebnis weiter zu schützen, ebenso über die Herausforderungen, vor denen die neue Regierung steht.

Hätten Sie ein so überwältigendes Ergebnis und eine so hohe Wahlbeteiligung erwartet?

Das Szenario war sehr komplex und es war schwierig, die Wahlbeteiligung und die Höhe des Sieges vorherzusagen, an dem wir nie gezweifelt haben. Bis zum letzten Tag hielt das Regime seine Kampagne des Hasses, der Gewalt und des Terrors aufrecht und versuchte, Angst und Unsicherheit zu säen, damit die Menschen nicht wählen gingen.

Am Ende war es überraschend, wie überwältigend diese Abstimmung war, vor allem weil wir mit Betrugsmanövern konfrontiert waren, die durch Nötigung, den Handel mit Ausweisen in den Wahllokalen und den Kauf von Stimmen mit öffentlichen Geldern gut geplant waren.
Wir wussten, dass wir einer kriminellen Bande mit internationalen Verbindungen gegenüberstehen, die es gewohnt ist, die Macht an sich zu reißen, zu plündern und die Gewalt als Mittel einzusetzen, um sich durchzusetzen.

Aber die Bevölkerung überwand die Angst, bemächtigte sich dieses Wahlprozesses und entschied sich, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Sie verstand, dass es keine weitere Chance geben würde.

Es war auch unglaublich, wie sehr sich unsere Leute zur Verteidigung der Wahl eingesetzt haben. Am Sonntagabend gingen sie raus, um ein wenig zu feiern, kehrten aber sofort zu den Wahllokalen zurück und blieben während des gesamten Wahlvorgangs wachsam.

Wir dürfen uns nicht beirren lassen oder vertrauensselig sein. Wir müssen wachsam bleiben, bis der letzte Stimmzettel ausgezählt ist. Nur dann werden wir in der Lage sein, dem Willen des Volkes Geltung zu verschaffen.

War es eine Protestwahl?

Honduras hat tiefgehende Tragödien erlebt: Korruption, Elend, organisierte Kriminalität, Verletzung der Menschenrechte, Ausverkauf von Ländereien, Aufgabe der Souveränität, Ausplünderung des Staates, Usurpation der Macht, Kriminalisierung des sozialen Protestes.

Die Bevölkerung wusste, dass dieser Wahlprozess die letzte Hoffnung war, aus dem Abgrund herauszukommen, in den uns die Regierung gestützt hat. Und Xiomara Castro hat es sehr gut gesagt: Jetzt oder nie!

Die Leute hatten zwei Möglichkeiten: Für das Regierungsprojekt von Tod und Zerstörung zu stimmen oder für den Wandel und die Hoffnung, die die Koalition um die Kandidatur von Xiomara Castro verkörpert.

Das ist also nicht nur der Sieg einer politischen Partei oder einer Koalition, sondern der eines Projekts zur Rettung des Landes.

In ihrer ersten Rede gedachte Xiomara Castro der vielen Opfer, die in diesen zwölf Jahren des Widerstands und des Kampfs gefallen sind.

Als wir den ersten Bericht der Wahlbehörden hörten, umarmten wir uns unter Tränen wegen der Menschen, die wir vermissen, wegen all der Kameraden, die wir in diesem Prozess durch die Hand des mörderischen Regimes verloren haben. Für Berta Cáceres, Margarita Murillo, für alle, die gefallen sind.


Aber auch für alle Familien, für alle honduranischen Männer und Frauen, die Opfer der Ausbeutung und des Elends geworden sind. Wir haben es gestern gesagt: Für unsere Märtyrer, für das vergossene Blut, haben wir gekämpft und gewonnen.

Der Sieg scheint unumkehrbar zu sein, und sowohl die Nationale Partei als auch Nasry Asfura haben den Sieg von Xiomara Castro anerkannt. Haben sie Angst, dass sie noch etwas versuchen könnten, um das Ergebnis zu ändern?

Wir wissen, dass die Menschen ihre Entscheidung bereits getroffen haben. Dies ist jedoch nicht der Zeitpunkt für Triumphalismus, sondern wir betonen, wie wichtig es ist, weiterhin auf den Prozess und die Auszählung der Stimmen achtzugeben. Die Menschen haben nicht vergessen, was 2017 geschah, den Betrug, die Repression und die Toten. Es herrscht eine vorsichtige Freude.

Außerdem genügt es nicht, die Präsidentschaft zu gewinnen. Wir brauchen einen starken Kongress, der all diese verhängnisvollen Gesetze aufhebt und den Regierungsplan vorantreibt. Die Tatsache, dass sie Xiomara Castros Sieg anerkennen, bedeutet nicht, dass sie nicht versuchen werden, auf legislativer und kommunaler Ebene zu betrügen.

Wir vertrauen auf die Leute, auf die Verteidigung der Stimme und auf unseren Vertreter in der Wahlbehörde, damit die Respektierung des Volkswillens gewährleistet ist. Das Regime muss die Niederlage akzeptieren und sich für einen Dialog öffnen, der einen Übergang ermöglicht.

Xiomara Castro hat zu Versöhnung, zu Frieden und zu Gerechtigkeit aufgerufen. Wie wird ihre Regierung sein?

Xiomara Castro hat es klar ausgedrückt. Sie haben so viel Hass geschürt, so viel Angst und so viel Schrecken verbreitet, dass eine Aussöhnung des honduranischen Volkes unerlässlich ist. Aber sie hat auch gesagt, dass es Gerechtigkeit geben wird und mit aller Kraft gegen die Straflosigkeit gekämpft werden wird. Versöhnung ist nicht gleichzusetzen mit Straflosigkeit. Dies muss sehr deutlich gemacht werden.

Am Sonntag haben wir einige Minuten gefeiert und uns dann sofort an die Arbeit gemacht. In den 60 Tagen der Übergangsphase vor der Amtseinführung (Ende Januar) werden wir die notwendigen Voraussetzungen schaffen, damit die Verpflichtungen eingehalten werden ,welche die Regierung für die ersten 100 Tage ihrer Amtszeit eingegangenen ist.

Das Volk ist verzweifelt und will einen wirklichen Wandel, ein Leben in Würde, eine Zukunft, ohne das Land verlassen zu müssen. Fürchten Sie nicht den Druck der Bevölkerung?

Xiomara Castro trägt eine historische Verantwortung. Sie wird sich nicht nur einer Kampagne des Hasses und der Frauenfeindlichkeit stellen müssen, weil sie die erste weibliche Präsidentin in der Geschichte unseres Landes ist, sondern sie muss auch die Führung einer zerstörten, bankrotten, geplünderten und hoch verschuldeten Nation übernehmen. Es wird schwer und eine gigantische Aufgabe sein, aber wir haben genug Kraft, um es zu schaffen. Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Partei (Libre) bei den Wahlen der politische Ausdruck des popularen Widerstands und Kampfes ist. Sie verfügt nicht über große ökonomische Ressourcen, hat aber aufgrund von ehrenamtlicher Arbeit drei Wahlen gewonnen. Zwei Wahlsiege wurden geraubt.

Wir alle, die an diesen Aktivitäten teilgenommen haben, haben sehr beschränkte finanzielle Kapazitäten. Und es war großartig zu sehen, wie viele Menschen aus sehr armen Gegenden kamen, um zu wählen, um zu feiern.

Wir wissen, dass wir auf der richtigen Seite stehen und für das Leben der Menschen, für unsere Familien kämpfen. Das gibt uns die Kraft, die Regierung zu bilden, die Honduras verdient und zu der sich Xiomara verpflichtet hat.