Honduras: Interview mit Martín und Víctor Fernández, Preisträger des Bremer Solidaritätspreises
Martin und Victor Fernández beim Pressegespräch in Berlin |
Ihr arbeitet vor Ort in den Gemeinden und bekämpft die Korruption von der Basis aus. Könnt ihr euren Ansatz genauer erklären?
M.F.: Für uns ist es wichtig, die Korruption nicht aus Sicht der Institutionen zu betrachten, sondern aus der Perspektive der betroffenen Bevölkerung. Wir wollen die Leute organisieren und ein Bewusstsein für das Thema Korruption schaffen. Die Menschen spüren die Korruption ganz konkret bei der Vergabe von Konzessionen für ihre natürlichen Güter: ihre Flüsse, Wälder, Bodenschätze und Territorien. Es gibt zwei Möglichkeiten, gegen diese Form von Konzessionierung vorzugehen. Wir können die Verantwortlichen benennen und anklagen und uns mit Petitionen und Anklageschriften an die entsprechenden Institutionen wenden. Aber wir glauben nicht, dass das Erfolg hat, weil die Institutionen von Grund auf korrupt sind. Eine andere Möglichkeit: die Bevölkerung und die Gemeinden in der Ausübung ihrer Souveränität zu unterstützen und gemeinsam mit ihnen Präventions- und Reaktionsstrategien zu entwickeln, um die natürlichen Güter und ihr soziales Umfeld vor der drohenden Verdrängung und Enteignung durch Rohstoffunternehmen zu schützen.
Könnt ihr diese Strategien genauer erläutern?
V.F.: Zu den Strategien gehört die Beteiligung an der Mesoamerikanischen Bewegung gegen das extraktivistische Bergbau-Modell (Movimiento Mesoamericano contra el Modelo Extractivo Minero). Damit geht einher, bestimmte Gebiete als „frei von Minen und Wasserkraftwerken“ zu erklären. Die MADJ stellt in diesem Zusammenhang die gängige Praxis der Gemeindekonsultationen in Frage. Die erfolgen nämlich meistens erst dann, wenn es um die Baugenehmigungen geht, und nicht schon vor der Vergabe von Konzessionen oder anderen vorgelagerten Verwaltungsverfahren. Die MADJ ruft über den Mechanismus der offenen Gemeindeversammlungen (cabildos abiertos) dazu auf, in einer Gemeinde nicht über einzelne Projekte zu entscheiden, sondern schlägt vor, eine ganze Gemeinde oder ein ganzes Gebiet als „frei von Minen- und Wasserkraftprojekten“ sowie zu öffentlichen Schutzgebieten zu erklären. Die Gemeinden berufen sich dabei auf Artikel 2 der honduranischen Verfassung, auf einige Artikel des Umweltschutz- sowie des Bergbaugesetzes und den darin festgelegten Grundprinzipien der Souveränität (der Gemeinden) über die Naturressourcen und des Rechts auf Bürgerbeteiligung, die wiederum mit dem Recht auf Selbstbestimmung und dem Konsultationsrecht verbunden sind. Wie die Souveränität ausgeübt wird, kann selbst gewählt werden; das ist nicht institutionell definiert. Im Forstgesetz über Wasser und Wildtiere von 2007 ist zum Beispiel festgelegt, dass der Nationalkongress auf Ersuchen von Gemeinden und Gemeindeversammlungen (cabildos abiertos) die Territorien zu Schutzgebieten erklären muss, in denen dann die Vergabe von Konzessionen untersagt ist. Die Umsetzung ist Aufgabe des ICF, des Nationalen Instituts für Waldschutz und Entwicklung, Schutzgebiete und Wildtiere.
Was bedeutet dies für die betroffenen Gemeinden?
M.F.: Für die Gemeinden bedeutet dies zunächst, eine Person zu benennen, die das Mandat hat, die Gemeinde im Landkreis zu vertreten. In den lokalen Instanzen muss das Mandat formell bestätigt werden. Letztlich ist es eine Entscheidung der Gemeinden, wie mit dem Projekt weiter verfahren werden soll. In Pajuiles begannen 2016 die Bauarbeiten für das Wasserkraftwerk „Los Planes“ des Unternehmens Hidroeléctrica Centrales El Progreso (Hidrocep) am Fluss Mezapa. Die betroffenen Gemeinden stellten Zerstörungen des Bergwaldes fest und waren in Sorge um das gesamte Ökosystem, vor allem aber auch um ihren Zugang zu Wasser. Entgegen der großen Mehrheit der betroffenen Gemeinden, die sich in einer öffentlichen Gemeindeversammlung gegen das Projekt aussprach, gab der damalige Bürgermeister dem Projekt dennoch seine Zustimmung, was gegen die Gemeindegesetzgebung verstieß. Hinzu kamen geheime Absprachen zwischen dem Privatunternehmen, der Gemeindeverwaltung und Polizei sowie fehlende Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen den Verantwortlichen der Schäden, den Hidrocep-Eigentümer Jason Hawit.
Wie kann die MADJ diese Prozesse unterstützen?
V.F.: Die MADJ unterstützt die Gemeinden als Rechtsbeistand, etwa bei der Formulierung von direkten Resolutionen oder bei der Ausübung von Direktmandaten, um die Einrichtung eines Schutzgebietes zu fordern. Mittlerweile haben sich in Atlántida sechs – von acht – Landkreise mit Unterstützung der MADJ auf diese Rechte berufen. Weitere befinden sich im Prozess, unter anderem in Tela und in San Francisco Atlántida oder auch in San Nicolás, Santa Barbara. Wir helfen dabei, die juristischen Voraussetzungen und organisatorischen Strukturen für den Widerstand aufzubauen, Perspektiven zu vermitteln und den gesamten Prozess politisch zu definieren.
Wie geht es weiter, wenn sich eine Gemeinde als „frei von Minen und Wasserkraftwerken“ erklärt hat?
V.F.: Wenn das formale Procedere abgeschlossen ist, entscheidet die Gemeinde darüber, wie mit dem entsprechenden Projekt und dem Unternehmen weiter verfahren wird. Das kann etwa eine Aktion sein, um das Unternehmen daran zu hindern, das Projekt weiter zu führen. Dann beginnt die Konfrontation mit bestimmten Instanzen, die das Recht der Landkreise ignorieren. Es kommt zu Konflikten mit der lokalen Regierung oder den Unternehmen, welche die Entscheidung der Gemeinde nicht anerkennen und sie stattdessen bedrohen. Jeder Ort entwickelt hier eine eigene Dynamik. Die Gemeinde in Pajuiles reagierte mit dem Aufbau eines Protestcamps und blockiert mittlerweile seit zwei Jahren die Zufahrtsstraße zur Baustelle von Hidrocep. Unsere Arbeit besteht darin, diese Kämpfe zusammenzuführen. In Atlántida sind wir dabei, eine Vernetzungsstruktur zwischen den Gemeinden und Basisorganisationen aufzubauen. Wir versuchen auf lokaler Ebene die einzelnen Mandate miteinander zu verbinden.
M.F.: Die betroffene Bevölkerung und wir von der MADJ gelangen allerdings auch an unsere Grenzen. Seit 2009 sind in der Region neun Aktivist*innen der MADJ ermordet worden, erst im Februar dieses Jahres José Salomón Matute und Juan Samael Matute Ávila, beide Tolupanes, die in San Francisco Locomapa in Yoro gegen die Holzmafia kämpften. Diese Mafia ist in der Region für zahlreiche Rodungen verantwortlich und arbeitet mit der Regierung und den Drogenkartellen zusammen. Zum Teil sind es Gemeinden, die nur zu Fuß zu erreichen sind. Selbst erfahrende Menschenrechtsbegleiter*innen gehen dieses Risiko nicht mehr ein. Aufgrund meines Engagements in der MADJ musste ich selbst bereits vier Mal das Land verlassen. Auf die vom Interamerikanischen Menschenrechtssystem erlassenen Schutzmaßnahmen können wir uns leider nicht verlassen, da die Polizei selbst in viele Verbrechen im Land verwickelt ist. Wir versuchen immer mehr Menschen, auch international, von unserem Ansatz zu überzeugen. Die internationale Solidarität ist eine große Hilfe für uns. So haben beispielsweise 20 Organisationen und Einzelpersonen aus Österreich und Deutschland den österreichischen Turbinenbauer „Geppert Hydropower“ auf dessen Mitverantwortung für Umweltschäden und Menschenrechtsverletzungen beim Bau des Wasserkraftwerkes „Los Planes“ hingewiesen und fordern einen sofortigen Lieferstopp für die Turbinen. Außerdem verlangen sie, eine Risikoanalyse vorzunehmen sowie die laufenden Verträge mit Hidrocep zu kündigen.
Ist Euch der Bremer Solidaritätspreis in der Sache dienlich?
Die Anerkennung unserer Organisation, speziell auch von uns beiden durch den Bremer Solidaritätspreis trägt hoffentlich zur Minimierung der Risiken bei. Das Preisgeld fließt direkt in die Arbeit in den Gemeinden. Wir wollen damit das Radio Dignidad ausbauen und ein neues Radio in der Tolupanes-Gemeinde San Francisco Locomapa aufbauen. Wir verstehen den Preis als Anerkennung für alle Menschen, die hier in unserem Land Widerstand leisten, aber auch für die Menschen auf der ganzen Welt, die die Fahne der Würde und Gerechtigkeit für alle hochhalten. Deshalb sagen wir: Hasta la dignidad siempre!
Das Gespräch führten Erika Harzer und Kirstin Büttner.
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„Besonders bei Großprojekten zur Ausbeutung der natürlichen Ressourcen werden in Honduras die Umweltgesetze oft missachtet. Regierung und Großkonzerne setzen die lokale Bevölkerung massiv unter Druck. Gemeinsam mit dem Anwaltsteam der ‚Bewegung für Würde und Gerechtigkeit‘ unterstützen sie die Bevölkerung bei der Durchsetzung ihrer Rechte und vertreten sie vor Gericht“. Mit diesen Worten beschreibt der Bremer Bürgermeister Dr. Carsten Sieling die beiden Fernández-Brüder im Rahmen der Preisverleihung. Der Preis, der alle zwei Jahre verliehen wird, wurde übrigens 1988 das erste Mal an Nelson und Winnie Mandela vergeben.
Mit ihrer Organisation MADJ (Movimiento Amplio para Dignidad y Justicia) setzen sich Martín und Víctor Fernández für ein neues Gesellschaftsmodell für Honduras ein, das sich gegen Korruption und missbräuchliche Verwendung der öffentlichen Güter wendet und eine Zukunft mit Transparenz, Würde und Achtung der Menschen- und Umweltrechte beinhaltet. Martín ist seit 2014 Koordinator der Bewegung, Víctor vertritt mit einer Gruppe von Anwälten die Angehörigen der 2016 ermordeten Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin Berta Cáceres. Beide Anwälte sorgten erstmals für Schlagzeilen, als sie 2008 mit einer größeren Gruppe von Staatsanwälten im Eingangsbereich des Parlamentsgebäudes einen fünfwöchigen Hungerstreik gegen das von Korruption geprägte honduranische Justizsystem durchführten. Aus dieser Aktion heraus entstand die Idee, eine Organisationsstruktur für die sozialen Bewegungen zur Bekämpfung der Korruption zu schaffen: Sie gründeten die Organisation MADJ. Ein Jahr später folgte der Putsch. Die anschließende Privatisierungswelle öffnete dem Ausverkauf der natürlichen Ressourcen Tür und Tor – laut Martín und Víctor der größte Akt von Korruption in der jüngeren Geschichte des Landes.
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